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Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Das Schmetterlingsmädchen - Roman

Titel: Das Schmetterlingsmädchen - Roman
Autoren: Laura Moriarty
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viele Leute umarmten sie und sprachen ihr ihr Beileid aus. Sie war dankbar für ihre Anteilnahme und hörte sich wehmütig all die guten Dinge an, die sie über Alan sagten. Aber trotz des schmerzhaften Druckes in ihrer Brust war ihr die ganze Zeit bewusst, dass Raymond allein und für sich stand. Joseph ging zu ihm und versuchte, leise mit ihm zu reden, aber Raymond schüttelte den Kopf und wandte sich ab. Vielleicht wusste er, was er sich zumuten konnte. Als er ging, ging er allein.
    Sie lud ihn immer wieder zum Abendessen ein. Die ersten Male lehnte er ab, aber nach einer Weile nahm er ihre Einladungen an. Sie wusste nicht, wie schmerzlich es für ihn war, mit ihr und Joseph an dem Tisch mit dem leeren Stuhl zu sitzen. Aber er kam wieder, und er kam bestimmt nicht wegen ihrer Kochkünste. Sie vermutete, dass es ihm etwas bedeutete, mit den beiden Menschen in der Welt zusammen zu sein, die seinen Schmerz kannten und respektierten. Einschließlich der Zeit, in der sie versucht hatten, Schluss zu machen, war er fünfzig Jahre lang mit Alan zusammen gewesen. Jetzt schien er dankbar zu sein, wenn er bei Cora und Joseph war, an dem Tisch, wo einer von ihnen auf Alans leeren Stuhl zeigen und »er« und »sein« sagen konnte und die anderen ihn verstehen würden.
    »Ich bin nicht viel jünger als Alan«, bemerkte Joseph eines Abends. Nur sie beide waren im Haus und erledigten gerade den Abwasch. Raymond, der an diesem Abend besonders schweigsam gewesen war, hatte sich kurz nach dem Essen verabschiedet.
    Cora gab ihm einen Teller zum Abtrocknen. »Du bist zwölf Jahre jünger«, sagte sie. »Und ich bin genauso alt wie du.«
    Joseph fuhr mit dem Geschirrtuch um den Tellerrand. Als sie sein Gesicht betrachtete, erkannte sie, dass er nicht einfach morbiden Gedanken nachhing. Er dachte über etwas nach. Sie wartete. Er trug jetzt dickere Brillengläser, und der goldene Strich in seinem rechten Auge war breiter und heller als früher.
    »Ich frage mich, ob wir es Greta nicht sagen sollen«, sagte er. »Ich könnte sterben. Wir könnten sterben. Und sie wird es nie erfahren.«
    Cora runzelte die Stirn. Diese Diskussion hatten sie seit Jahren nicht mehr geführt. Sie betrachtete ihre Hände, ihre vertrauten Hände, die im Seifenwasser alt und runzlig aussahen. Was hatte Schopenhauer noch geschrieben? Die letzten Lebensjahre sind wie das Ende eines Maskenballs, wenn die Masken fallen. Aber vielleicht waren es noch nicht ihre letzten Lebensjahre, und soweit sie es beurteilen konnte, schadeten ihre Masken niemandem.
    Sein Geschirrtuch quietschte auf dem Porzellan. »Weißt du, was sie neulich zu mir gesagt hat? Sie hat gesagt, dass sie sich bei jeder Schwangerschaft fragt, ob es wohl Zwillinge werden. Weil es in der Familie vorkommt. Cora, sie glaubt, dass du ihre Tante bist.«
    Das war nichts Neues.
    »Es ist kein guter Zeitpunkt«, sagte sie und reichte ihm den nächsten Teller. »Sie bekommt bald ein Baby, und wir haben erst vor Kurzem Alan verloren. Der Schock wäre nicht gut für sie.« Sie konnte fühlen, wie er sie beobachtete, abwartete.
    Er drehte den Wasserhahn zu, nicht verärgert, sondern nur, weil er ihre volle Aufmerksamkeit wollte. »Du findest, wir sollten es ihr nicht sagen«, sagte er. »Nicht jetzt und auch nicht künftig.«
    Sie trocknete sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie musste keine Angst haben. Was sie auch sagte, er würde sie nicht verurteilen. Er war der, der er immer gewesen war. Er würde das, was sie ihm sagte, annehmen, als wäre sie ein Pilot, der einen Vorschlag für einen seiner Motoren oder Tragflächen machte. Er war ein aufmerksamer Mensch, der gut zuhören konnte, jemand, der gründlich nachdachte, ehe er eine Entscheidung traf. Sie liebte ihn immer noch.
    »Nein«, sagte sie. »Wenn du der Meinung bist, dass deine Tochter es wissen sollte, werde ich mir anhören, was du zu sagen hast. Aber was mich betrifft, finde ich, wir sollten es ihr nicht sagen. Niemals. Ich sehe nicht ein, wozu es gut sein sollte, und es könnte großen Schaden anrichten. Bei ihr. Bei Raymond. Was, wenn sie es ihrem Mann erzählt? Was, wenn er es weitererzählt?«
    »Aber es ist die Wahrheit.«
    Cora zuckte die Achseln. Früher einmal hatte sie die Wahrheit für wichtig gehalten. Sie war bis nach New York gefahren, um die Wahrheit zu finden, das, was sie glaubte, wissen zu müssen. Und was hatte es ihr gebracht? Mary O’Dell. Selbst damals in ihrem Schmerz und ihrer Ratlosigkeit hätte Cora nicht im Traum daran
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