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Das Schloß der blauen Vögel

Das Schloß der blauen Vögel

Titel: Das Schloß der blauen Vögel
Autoren: Heinz G. Konsalik
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erleichtern von allem Ballast, wie er es nannte, bis nur noch Torsos an den Wänden hingen. Gegen Morgen war er zurückgeschlichen ins Bett, zufrieden und erschöpft von diesen operativen Leistungen, hatte die neben ihm schlafende Luise lange angestarrt und mit sich gerungen, ob er auch sie erleichtern solle. Nur weil er zu müde war, überlebte sie diese Nacht.
    Dorian und Luise sahen sich kurz an. Sie dachten das gleiche und froren plötzlich.
    »Grandios«, sagte Dorian mit gewaltsam ruhiger Stimme. »Meisterleistungen. Sind alle Ihre Patienten so?«
    »Ja.«
    »Gratuliere.«
    Dorian setzte sich auf den nächsten Stuhl. Seine Beine versagten. Die Erlösung, keine Leichen zu sehen, sondern nur amputierte Kreide-Umrisse, kam wie eine allgemeine Erschlaffung über ihn. Luise beugte sich vor.
    »Soll ich Ihnen einen Cognac holen, Herr Professor?« fragte sie. »Wir haben unten noch ein Flasche voll.«
    »Nein, danke. Es geht schon.« Dorian atmete ein paarmal tief durch. Mit den Händen strich er sich über die Stirn und zog sie schweißnaß wieder zurück. Er trocknete sie an seinem Kittel ab. »Nehmen wir unseren Rundgang wieder auf.« Er wandte sich an Luise, als er aufstand. »Keine akuten Patienten?« Das Wort ›akut‹ betonte er deutlich. Luise verstand.
    »Nein. Kein akuter Fall, Herr Professor.«
    »Das ist gut.« Dorian war es, als habe er ein neues Herz bekommen. Er atmete plötzlich freier und leichter, das Blut durchpulste ihn wieder, ohne daß er das Gefühl hatte, der Herzmuskel würde abgewürgt. »Mich interessiert vor allem Ihre Operationsvorbereitung, Herr Kollege. Was injizieren Sie präoperativ?«
    »Nichts!« Sassner lachte tief und selbstbewußt. »Meine Patienten werden seelisch vorbereitet. Ein gutes Gespräch über ihre Krankheit, und sie lernen den Wert der Logik. Sie werden ganz ruhig.«
    »Einfach toll.« Dorian folgte Sassner zum ausgeräumten OP. Dort waren nur noch zwei Stühle, die verloren in dem großen leeren Raum standen. Sassner setzte sich auf einen und bot Dorian den zweiten an.
    »Sie machen es anders?« fragte er interessiert.
    »Aber ja. Ich injiziere ein Beruhigungsmittel.« Dorian stellte seine Arzttasche auf die Knie, öffnete sie und holte eine Ampulle heraus. Es war ein starkes Morphinpräparat. Langsam, unter Sassners Augen, entnahm er der Tasche den blinkenden Spritzenkasten, öffnete ihn, steckte mit einer Pinzette eine Hohlnadel auf eine Spritze und legte sie auf sterile Watte. Dann nahm er die Ampulle, ritzte die Spitze an und brach sie ab.
    »Riechen Sie mal, Herr Kollege.«
    Er hielt Sassner die Ampulle unter die Nase, und dieser schnupperte.
    »Geruchlos.«
    Dorian nickte. »Farblos wie Wasser, geschmacklos. Aber ein Wunderding. Wenn es in den Kreislauf kommt, werden die Kranken fröhlich. Sie singen. Ihre Welt wird zu einem Garten. Singend gehen sie zum OP-Tisch und legen sich hin.«
    »Ist das wahr? Singend?« Sassners Stimme zitterte vor Erregung. »Sie singen wirklich?«
    »Sie singen laut und schön!«
    Sassner sprang auf. Er zitterte am ganzen Körper. »Sie singen … das erste Stadium eines Vogels haben sie erreicht! Sie singen! Und dieses Wundermittel haben Sie erfunden, Herr Professor?«
    »Ja. Nach zwanzigjähriger Suche.«
    »Meine Hochachtung!« Sassner verbeugte sich. »In der Operationstechnik, das müssen Sie zugeben, habe ich Sie überrundet …«
    »Ganz klar!«
    »… aber in der medikamentösen Behandlung sind Sie mir weit voraus. Sie müssen mir das demonstrieren, Herr Professor.«
    »Recht gern. Aber an wem? Ihre Patienten sind sämtlich schon operiert und brauchen Ruhe.«
    »Versuchen Sie es an mir.« Sassners Gesicht glänzte. »Sagen Sie nicht nein, Herr Professor! Große Taten entstanden oft im Selbstversuch. Ich will genießen, zu singen und euphorisch zu sein! Wie lang hält so eine Spritze an?«
    »Zwei Stunden vielleicht.«
    »Das können wir wagen! Schwester Wadenwickel wird sich um die Patienten kümmern.«
    Luise nickte. Sie konnte kein Wort mehr sprechen. Es war erschütternd, wie der große Bär Gerd Sassner von dem kleinen Fuchs Dorian überlistet wurde. Nur weil sie diesen Mann immer noch liebte, der der Vater ihrer Kinder war, von dem sie zwanzig Jahre Glück empfangen hatte, konnte sie zusehen, wie Sassner den linken Ärmel des Hemdes aufkrempelte, sich wieder auf den Stuhl setzte und den Arm gerade in die Luft hielt. Professor Dorian zog die Spritze auf, drückte die Luft aus der Kanüle und deutete auf die auf dem Boden
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