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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld
Autoren: Mo Yan
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schnell wich die Erregung tiefstem Entsetzen.
    «Kleine Schwester», sagte sie, «was fehlt dir, kleine Schwester?»
    Zweite Großmutter öffnete den Mund zu einem Strom wilder Verwünschungen: «Hurensohn, ich werde dir nie vergeben. Ihr könnt meinen Körper töten, aber nicht meinen Geist. Ich werde dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen und dir jede Sehne einzeln aus dem Körper reißen!»
    Das war nicht die Stimme meiner Zweiten Großmutter. Vater war sicher, dass es die Stimme einer über Fünfzigjährigen war.
    Großmutter zuckte vor dem Strom von Beschimpfungen zurück, die Zweite Großmutter ausstieß.
    Die Augenlider meiner Zweiten Großmutter flatterten blitzschnell. Im einen Augenblick schrie sie wie wild, im nächsten stieß sie wütende Flüche aus. Der Klang ihrer Stimme ließ die Dachbalken erzittern, die Kälte ihres Atems füllte das Zimmer. Vater sah, dass ihr Körper vom Hals abwärts steif war wie ein Brett, und er fragte sich, woher sie die Kraft für all die Schreie und Flüche nahm.
    Großvater, der nicht wusste, was er tun sollte, schickte Vater, um Onkel Luohan aus dem Osthof zu holen. Man konnte die grauenhaften Schreie bis dorthin hören. Sieben oder acht Brennereiarbeiter standen in Onkel Luohans Zimmer und redeten über die Ereignisse. Als sie Vater sahen, verstummten sie sofort. «Onkel Luohan», sagte Vater, «mein Pflegevater ruft dich.»
    Onkel Luohan betrat das Zimmer, warf einen Blick auf Zweite Großmutter, packte Großvater am Ärmel und zog ihn schnell aus dem Zimmer. Vater folgte den beiden. «Direktor Yu», sagte er leise, «sie ist bereits tot. Sie muss von einem Geist besessen sein.»
    Kaum hatte er die Worte über die Lippen gebracht, als Zweite Großmutter drinnen im Zimmer anfing, ihn zu verfluchen. «Liu Luohan, du Hurensohn ! Du wirst keinen leichten Tod sterben ! Sie werden dir bei lebendigem Leib die Haut abziehen, dir jede Sehne einzeln aus dem Körper reißen, dir den Schwanz abschneiden ...»
    Wortlos blickten Großvater und Onkel Luohan einander an.
    Onkel Luohan dachte kurz nach, dann sagte er: «Wascht sie mit Flusswasser, um den bösen Geist zu bannen.»
    Die Flüche strömten weiter aus dem Mund meiner Zweiten Großmutter.
    Onkel Luohan holte einen Krug schmutziges Flusswasser. Vier kräftige Brennereiarbeiter folgten ihm, als er zurückkam. Schallendes Gelächter empfing sie aus dem Zimmer, in dem Zweite Großmutter lag. «Luohan, Luohan, schütt es in mich, schütt es über mich, deine alte Tante hat Durst!»
    Vater sah zu, wie einer der Arbeiter Zweiter Großmutter einen kleinen Trichter in den Mund schob. Ein anderer goss Wasser in den Trichter. Im Trichter bildeten sich Wasserwirbel, und das Wasser floss so schnell ab, dass man sich kaum vorstellen konnte, es werde tatsächlich in ihrem Magen landen.
    Nachdem man ihr einen Krug Wasser in den Hals gegossen hatte, wurde Zweite Großmutter ruhiger. Ihr Bauch war noch genauso flach wie vorher, aber die Brust hob und senkte sich, als schnappe sie nach Luft.
    Erleichtert atmeten alle auf.
    «Gut», sagte Onkel Luohan, «jetzt ist sie alt.»
    Wieder hörte Vater das Trippeln winziger Tatzen auf den Dachziegeln, als liege die schwarze Katze auf der Lauer.
    Das starre Gesicht der Zweiten Großmutter erwachte wieder zum Leben und verzog sich zu einem bezaubernden Lächeln. Sie streckte den Hals aus wie eine gackernde Henne. Die Haut war so hart gespannt, dass sie glänzte. Sie schrie einmal, zweimal auf, und ein Strom trüben Wassers brach aus ihrem Mund. Der Strahl sprang mehr als einen halben Meter in die Luft und fiel dann wieder herab. Wassertropfen sprühten wie Blütenblätter über ihre neuen Begräbniskleider.
    Der Springbrunnentrick, den Zweite Großmutter vorführte, ließ die Arbeiter entsetzt aus dem Zimmer stürzen. «Lauft nur, lauft nur!» rief sie ihnen nach. «Ihr könnt nicht entkommen. Der Mönch mag laufen, der Tempel bleibt stehen.»
    Ihre Schreie ließen den Arbeitern das Herz in der Brust gefrieren. Sie wünschten sich ein zweites Paar Beine, um schneller davonlaufen zu können.
    Onkel Luohan blickte Großvater beschwörend an. Der blickte ihn an. Blicke aus vier Augen kreuzten sich und trafen sich in zwei hilflosen Seufzern.
    Großmutters Verwünschungen wurden lebhafter. Jetzt begleitete sie heftiges Zittern ihrer Arme und Beine. «Japanische Hunde», fluchte sie, «chinesische Hunde, in dreißig Jahren werden sie überall sein. Yu Zhan’ao, du kannst ihnen nicht entkommen. Wenn die
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