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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld
Autoren: Mo Yan
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bewusst, wie schwer sein Verbrechen war. Die Japaner hätten die Werkstatt im äußersten östlichen Winkel des Dorfs nie gefunden, wenn er ihnen den Weg nicht gezeigt hätte. Es war die größte gewesen. Hier arbeiteten zwanzig oder dreißig Männer, die nachts Strohsandalen webten und einander Witze erzählten. Die Japaner hatten mehr als vierzig Handgranaten in die Werkstatt geschleudert, und das Dach des Gebäudes war in die Luft geflogen. Nach der letzten Explosion war die zerstörte Werkstatt ein plattgewalzter Friedhof. Nur ein einziger Dachpfosten aus Weidenholz stand wie ein einsamer Gewehrlauf im Schlamm und wies zum scharlachroten Himmel.
    Er hatte Angst. Er war schuldbeladen. Hunderte von vertrauten Gesichtern umgaben ihn und klagten ihn voll Empörung an. Er verteidigte sich hartnäckig : Die Japaner haben mich mit vorgehaltenem Bajonett dazu gezwungen. Wenn ich ihnen den Weg nicht gezeigt hätte, hätten sie die Werkstätten allein gefunden und sie trotzdem in die Luft gejagt. Die ermordeten Dorfbewohner sahen einander verblüfft an und zogen sich dann schweigend zurück. Er blickte auf ihre zerfetzten Körper, und obwohl sein Gewissen rein war, fühlte er sich wie jemand, der in Eiswasser treibt und von innen und außen zugleich erfriert.
    Als er sich nach Hause schleppte, fand er seine schöne Frau und seine dreizehnjährige Tochter. Sie lagen nackt im Hof, und ihre Eingeweide lagen neben ihnen. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er fiel um. Er lag einfach nur da, und einen Moment glaubte er, er sei tot, im nächsten, er lebe. Er rannte um sein Leben nach Südwesten. Er rannte hinter irgend etwas her. Eine ovale rote Wolke schwebte im Südwesten am rosafarbenen Himmel, und dort standen seine Frau, seine Tochter, seine Dorfgenossen, alle, Männer und Frauen. Er rannte, als hätten seine Füße Flügel. Das Gesicht zum Himmel gewandt, verfolgte er die Wolke, die langsam dahintrieb. Die Menschen in der Wolke, selbst seine Frau und seine Tochter, kümmerten sich nicht um seine Mühen und spuckten ihn an. Verzweifelt versuchte er, sich zu verteidigen. Die Japaner hatten ihn gezwungen, ihnen den Weg zu zeigen. Aber aus der Wolke fiel noch mehr Speichel auf ihn. Er sah, wie sich die Wolke immer höher in den Himmel erhob, bis sie nur noch ein heller, blutroter Fleck war ...
    Seine schöne, junge, hellhäutige Frau hatte sich geschämt, einen Mann mit Narben im Gesicht zu heiraten. Er hatte jede Nacht in der Dorfkneipe Flöte gespielt. Die Flöte weinte und seufzte und brach ihr beinahe das Herz. Sie hatte die Flöte geheiratet, nicht ihn. Immer wieder spielte er seine Melodien, bis sie der Flöte überdrüssig wurde. Sie hatte sein Narbengesicht von Anfang an abstoßend gefunden, jetzt wurde es ihr unerträglich. Also brannte sie mit einem Tuchhändler durch. Aber er lief hinterher, schleppte sie zurück und schlug ihr den Hinternwindelweich. Eine geschlagene Frau ist wie gekneteter Teig. Von da an widmete sie sich mit ganzem Herzen dem Haushalt und den Kindern. Erst bekam sie ein kleines Mädchen, dann einen Jungen. Cheng kam wieder zu Sinnen und begab sich auf die Suche nach seinem Sohn. Der achtjährige Junge steckte mit dem Kopf nach unten und den Füßen in der Luft im Wasserfass. Sein Körper war starr wie ein Stock.
    Cheng Mazi befestigte ein Seil am Türrahmen, knüpfte eine Schlinge, stellte sich auf einen Schemel, steckte den Kopf in die Schlinge und stieß den Schemel weg. Die Schlinge zog sich zusammen. Ein halbwüchsiger Junge zog ein Messer und schnitt das Seil durch. Cheng Mazi stürzte zu Boden. Er kam wieder zu Bewusstsein, nachdem der Junge seinen Hintern massiert hatte.
    «Onkel Cheng!» sagte der Junge ärgerlich. «Haben die Japaner noch nicht genug von uns getötet? Warum willst du dich selbst umbringen? Rache kannst du nur nehmen, solange du am Leben bist, Onkel.»
    Unter Tränen beklagte sich Cheng Mazi: «Chunsheng, mein Junge», sagte er, «deine Tante, die kleine Lanzi, der kleine Chuzi, sie sind alle tot. Ich habe keine Familie mehr.»
    Chunsheng ging mit dem Messer in der Hand in den Hof hinaus. Als er zurückkam, war sein Gesicht weiß wie ein Laken, und seine Augen waren rot. «Onkel», sagte er und half Cheng auf die Beine, «komm, wir schließen uns dem Jiao-Gao-Regiment an. Sie sind in Liangxian und kaufen Pferde und werben Rekruten an.»
    «Und mein Haus, und mein Besitz?» fragte Cheng Mazi.
    «Du bist ein verrückter alter Mann. Eben noch wolltest du dich aufhängen, und
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