Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld
Autoren: Mo Yan
Vom Netzwerk:
heute nirgends mehr riechen kann. Kommandant Yu führte ihn an der Hand durch die Hirse, in der dreihundert Dorfgenossen lagen. Die Köpfe ruhten auf den Armen, frisches Blut verwandelte die Erde zu klebrigem Schlamm, der das Laufen schwermachte. Der Gestank verschlug ihnen den Atem. Ein Rudel aasfressender Hunde kauerte im Feld, sie starrten Vater und Kommandant Yu aus glühenden Augen an. Kommandant Yu zog die Pistole und feuerte; ein Paar Augen schloss sich. Noch ein Schuss, noch ein Paar Augen. Aufheulend stoben die Hunde auseinander, dann, außer Schussweite, kauerten sie auf den Hinterläufen, begannen wütend zu bellen und starrten gierig lechzend auf die Leichen. Der ekelerregende Geruch wurde immer stärker.
    «Japanische Hunde!» schrie Kommandant Yu. Er leerte das Magazin seiner Pistole, und die Hunde verschwanden spurlos. «Komm, mein Sohn», sagte Kommandant Yu, «gehen wir.» Zu zweit, ein alter und ein junger Mann, suchten sie im Mondlicht ihren Weg durch das Hirsefeld. Der widerliche süßliche Geruch über den Feldern tränkte die Seele meines Vaters und blieb in den grausamen, brutalen Monaten und Jahren, die vor ihm lagen, sein ständiger Gefährte.
    Wirr zischten und dampften Hirsehalme und -blätter im Nebel. Das dröhnende Rauschen des Schwarzwasserflusses, der sich träge durch die sumpfige Niederung wälzte, war mal laut, mal leise, mal nah, mal fern von hinter dem Nebelvorhang zu hören. Als sie den Trupp einholten, hörte mein Vater Fußgetrampel und schweres Atmen von allen Seiten. Zwei Gewehrkolben schlugen gegeneinander. Ein Fuß trat auf etwas, das wie menschlicher Knochen knirschte. Der Mann unmittelbar vor meinem Vater hustete laut. Es war ein vertrautes Husten, das an große Ohren erinnerte, die blutrot wurden, wenn ihr Besitzer nervös war. Große, durchscheinende Ohren, von kleinen Äderchen durchzogen, waren das hervorstechende Merkmal von Wang Wenyi, einem kleinen Mann, der den Kopf gebeugt zwischen den Schultern trug. Mein Vater blinzelte und kniff die Augen zusammen, bis sein Blick durch den Nebel drang: Es war Wenyi, dessen Kopf mit jedem Hustenanfall von rechts nach links zuckte.
    Vater erinnerte sich, wie Wang von Adjutant Ren auf dem Exerzierplatz geschlagen worden war und wie mitleidheischend er damals mit dem Kopf gewackelt hatte. Er hatte sich gerade erst Kommandant Yu angeschlossen. Adjutant Ren kommandierte: «Rechtsum kehrt!» Wang Wenyi trat freudig und kräftig auf, aber niemand hätte erkennen können, in welche Richtung er seine Kehrtwendung machen wollte. Adjutant Ren schlug ihm die Peitsche über den Hintern, und er schrie auf: «O Mutter meiner Kinder!» Es war nicht zu bestimmen, ob er lachte oder weinte. Hinter der Mauer johlten freudig ein paar Kinder.
    Kommandant Yu trat Wang Wenyi in den Hintern. «Wer hat dir erlaubt zu husten?»
    «Kommandant Yu», Wang Wenyi unterdrückte einen Hustenanfall, «mein Hals kratzt.»
    «Das ist kein Grund. Wenn du unsere Stellung verrätst, bist du dran.»
    «Jawohl», antwortete Wang und brach in neues Husten aus.
    Mein Vater spürte, wie Kommandant Yu vorsprang und Wang Wenyi mit beiden Händen am Hals packte. Wang stöhnte und keuchte, aber das Husten hörte auf.
    Mein Vater fühlte auch, wie die Hände des Kommandanten von Wangs Hals abließen; er spürte sogar die blauen Flecke, die sie hinterließen und die aussahen wie reife Trauben. Wangs dunkle, ängstliche Augen füllten sich mit gekränkter Dankbarkeit.
    Der Trupp marschierte schnell durch das Hirsefeld. Instinktiv wusste mein Vater, dass sie nach Südosten zogen. Der Feldweg war die einzige direkte Verbindung zwischen dem Schwarzwasserfluss und dem Dorf. Bei Tageslicht war er blassgrau. Die ursprünglich ebenholzschwarze Erde war zertrampelt und von Fährten zahlloser Tiere bedeckt: den gespaltenen Hufspuren von Ochsen und Ziegen, den halbmondförmigen Spuren von Maultieren, Pferden und Eseln; da waren wurmige Kuhfladen, trockene Pferdeäpfel und kleine schwarze Ziegenböhnchen. Vater war diesen Weg so oft gegangen, dass er ihn später häufig vor sich sah, als er in der japanischen Aschengrube lag. Er hat nie erfahren, wie viele sexuelle Komödien meine Großmutter auf diesem Feldweg aufgeführt hat; aber ich weiß es. Er hat nie erfahren, dass ihr glänzender, jadefarbener nackter Körper im Schatten der Hirsehalme auf der schwarzen Erde gelegen hat; aber ich weiß es.
    Der Nebel, der sie umgab, wurde zähflüssiger, als sie das Hirsefeld erreichten, und zog
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher