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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld
Autoren: Mo Yan
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sich so dicht zusammen, dass Vater sich kaum mehr bewegen konnte. Die Halme quietschten in geheimer Empörung, wenn die Männer oder ihre Ausrüstung sie berührten, und ließen große, traurige Wassergüsse zu Boden fallen. Das Wasser war eiskalt, klar und sprudelnd, wunderbar erfrischend. Mein Vater sah nach oben, und ein großer Tropfen fiel ihm in den Mund. Als der Nebelvorhang sich langsam lüftete, sah er die Hirserispen sich schwer und gemächlich beugen. Die zähen, biegsamen, tauschweren Blätter sägten an seinen Kleidern und seinem Gesicht. Eine kurze Brise ließ die Halme über ihm flüstern; das Dröhnen des Schwarzwasserflusses wurde lauter.
    Vater hatte so oft im Schwarzwasserfluss gebadet, als sei er im Wasser geboren. Großmutter behauptete, der Anblick des Flusses sei ihm lieber als das Bild seiner eigenen Mutter. Mit fünf Jahren konnte er tauchen wie ein Entchen, sein kleines rosa Arschloch tanzte über dem Wasser, und die Füße wedelten in der Luft. Er wusste, dass das modrige Flussbett schwarz und glänzend und schwammig wie weicher Talg war und dass die Ufer von blassgrünem Schilf und daunenfarbenem Wegerich bedeckt waren. Gewundene Ranken und hartes Gras bedeckten den Schlamm, über den Krabben hin und her huschten.
    Herbstwinde begannen zu wehen, die Luft wurde kühler, und am Himmel sah man Wildgänse nach Süden ziehen. Ständig wechselte ihre Flugordnung, mal flogen sie in einer Linie, dann in einem Keil. Wenn die Hirse rot wurde, kletterten nachts Scharen von Krabben, so groß wie Pferdehufe, ans Ufer und suchten unter dem Flussgras nach Nahrung. Krabben sammeln sich um frischen Kuhmist und faulendes Aas.
    Das Rauschen des Flusses erinnerte Vater an die Herbstnacht in seiner Kindheit, in der Onkel Liu Luohan, der Vorarbeiter unseres Familienbetriebes, ihn zum Krabbenfang am Flussufer mitgenommen hatte. In jener purpurgrauen Nacht wehte eine goldene Brise über dem Fluss. Der saphirfarbene Himmel war tief und grenzenlos, und die Sterne schienen in grünlichem Licht: die Deichsel des Großen Wagens - Herr des Nordens, Herr des Todes -der Korb des Schützen - Herr des Südens, Herr des Lebens - der achteckige Gläserne Brunnen, dem eine Seite fehlt, Atair, der melancholische Kuhhirt, der sich erhängen wird. Vega, die trauernde Weberin, die sich im Fluss ertränken wird. Onkel Liu Luohan hatte jahrzehntelang die Schnapsbrennerei der Familie geleitet, und Vater hörte auf ihn, als sei er sein eigener Großvater.
    Der Docht einer Petroleumlampe, eine Blechbüchse mit vier Glasscheiben, wies Vater den Weg. Das schwache Licht bohrte einen fünf Meter breiten hellen Kegel in den dunklen Nebel. Im Schein des Lichtkegels nahm das Wasser kurz die appetitliche Farbe reifer Aprikosen an, bevor es weiterströmte. Der Sternenhimmel spiegelte sich im Dunkel des Wassers. Die Regenmäntel über die Schultern geworfen, saßen mein Vater und Onkel Luohan im gedämpften Licht der Lampe und lauschten dem tiefen, ruhigen Murmeln des Flusses. Von Zeit zu Zeit erklang aus dem Hirsefeld am Ufer das erregte Bellen eines Fuchses. Vom Licht angezogen, trippelten Krabben auf die Lampe zu. Schweigend saßen mein Vater und Onkel Luohan im Wind, der den Schlammgestank des Flusses mit sich trug, und lauschten ehrfürchtig den Geheimnissen des Landes. Scharen von Krabben umkreisten ruhelos die Lampe. Vor Aufregung wäre mein Vater fast aufgesprungen, aber Onkel Luohan hielt ihn an der Schulter fest.
    «Immer mit der Ruhe», sagte er. «Der Gierhals bekommt am wenigsten Brei.» Mein Vater versuchte sich zu beherrschen und blieb still sitzen. Sobald sie den Lichtkreis der Lampe erreicht hatten, blieben die Krabben stehen. Kopf an Schwanz gereiht, bedeckten sie den Boden. Über grünen Schalen öffneten sich unzählige Knopfaugen auf langen Stielen. Aus Mäulern, die unter fallenden Köpfen verborgen waren, strömten bunte, schäumende Blasen und weckten den Jagdeifer der Krabbenfischer. Vaters Haare sträubten sich unter dem Regenmantel. «Jetzt», rief Onkel Luohan. Noch bevor der Ruf verklungen war, hatte mein Vater zwei Ecken des enggeknüpften Netzes gepackt, das sie auf dem Boden ausgebreitet hatten. Sie hoben es in die Luft, sammelten eine Schicht Krabben auf und legten einen klaren Erdflecken frei. Schnell verknoteten sie die Ecken, warfen das Netz beiseite und hoben genauso schnell und geschickt das nächste auf. Die schweren Bündel enthielten Hunderte, wenn nicht Tausende von Krabben.
    Vater folgte den anderen
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