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Das Rote Kornfeld

Das Rote Kornfeld

Titel: Das Rote Kornfeld
Autoren: Mo Yan
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Kröte einen Giftkäfer frisst, hat sie das Schlimmste noch vor sich.»
    Ihr Körper spannte sich zu einem Bogen, als wolle sie sich aufsetzen.
    «Oh», rief Onkel Luohan, «eine sitzende Leiche! Gebt mir schnell einen Zündstein.»
    Großmutter warf ihm den Zündstein zu. Irgendwoher nahm Großvater den Mut, Zweite Großmutter festzuhalten, so dass ihr Onkel Luohan den Zündstein aufs Herz drücken konnte. Der Versuch blieb erfolglos.
    Onkel Luohan wollte sich rückwärts aus dem Zimmer schleichen. «Onkel», sagte Großvater, «du kannst mich jetzt nicht allein lassen.»
    «Herrin», sagte Onkel Luohan zu Großmutter, «bring mir schnell einen Spaten!»
    Als der Spaten fest auf dem Brustkorb von Zweiter Großmutter lag, entspannte sich ihr Körper.
    Großvater und Onkel Luohan verließen das Zimmer. Vater folgte ihnen.
    Großmutter, Großvater, Onkel Luohan und Vater gingen hinaus in den Hof, und Zweite Großmutter blieb mit ihrem Leiden allein im Zimmer.
    «Yu Zhan’ao», rief Zweite Großmutter ihnen von drinnen nach, «ich will ein Hähnchen mit gelben Beinen essen.»
    «Nimm mein Gewehr und schieß eins», sagte Großvater.
    «Nein», sagte Onkel Luohan, «jetzt nicht mehr. Sie ist tot.»
    «Schnell, Onkel Luohan», sagte Großmutter, «lass dir etwas einfallen.»
    Onkel Luohan sagte: «Zhan’ao, ich werde den Bergprediger aus Bolan holen.»»
    Im Morgengrauen zerrissen die Schreie, die Zweite Großmutter ausstieß, beinahe das Fensterpapier. «Luohan», tobte sie, «Luohan, du und ich, wir sind Feinde, die nicht unter einem Himmel leben können.»
    Als Onkel Luohan mit dem Bergprediger den Hof betrat, verwandelten sich die Flüche, die Zweite Großmutter ausstieß, in lang hingezogene Seufzer.
    Der siebzigjährige Bergprediger trug eine schwarze Kutte, die vorn und hinten mit geheimnisvollen Zeichen geschmückt war. Ein Schwert aus Pfirsichholz hing auf seinem Rücken, in den Händen trug er ein Stoffbündel.
    Großvater ging ihm entgegen, um ihn zu begrüßen, und erkannte gleich den Bergprediger Li wieder, der vor Jahren den Wieselgeist meiner Zweiten Großmutter gebannt hatte. Inzwischen war er hagerer geworden.
    Der Bergprediger stieß mit seinem Holzschwert ein Loch ins Fensterpapier und sah ins Zimmer. Als er den Kopf wieder aus dem Fenster zog, war sein Gesicht aschfahl und blutleer. Er verneigte sich vor Großvater und sagte: «Direktor Yu, ich fürchte, meine Kräfte sind zu schwach, diesem Übel zu begegnen.»
    Von Angst ergriffen, bat Großvater: «Bergprediger, du kannst jetzt nicht gehen. Du musst den Geist vertreiben. Du sollst reich belohnt werden.»
    Die dämonisch funkelnden Augen des Bergpredigers zwinkerten, und er sagte: «Also gut! Ich werde einen Tropfen trinken, meinen Mut zusammennehmen und mit dem Kopf gegen die goldene Glocke schlagen!»
    Noch heute erzählt man sich im Dorf davon, wie Bergprediger Li den Geist beschwor, von dem Zweite Großmutter besessen war.
    Die Legende berichtet, mit wirr gesträubtem Haar habe Bergprediger Li im Hof den Beschwörungstanz getanzt, Zaubersprüche gesungen und sein Schwert in der Luft geschwungen. Zweite Großmutter habe drinnen auf der Bettstatt gelegen, sich gesträubt und gewunden, geheult und geschrien.
    Schließlich ließ sich der Bergprediger von Großmutter eine Holzschale bringen und füllte sie zur Hälfte mit klarem Wasser. Er nahm einen Zaubertrank aus seinem Bündel, schüttete ihn in das Wasser und rührte kräftig mit der Schwertspitze um. Dabei sang er die ganze Zeit. Das Wasser wurde rot und röter, bis es die Farbe von frischem Blut annahm. Mit fettigem, schweißüberströmtem Gesicht sprang er ein-, zweimal hoch in die Luft und fiel mit dem Gesicht nach oben zu Boden. Schaum stand ihm vor dem Mund, und er verlor das Bewusstsein.
    Als der Bergprediger wieder erwachte, stieß Zweite Großmutter ihren letzten Atemzug aus. Der Gestank ihrer verrotteten Leiche und ihres verfaulten Bluts schwebte durch das offene Fenster ins Freie. Als man sie in den Sarg legte, hielten alle Handtücher vor die Nase, die in Hirsebranntwein getaucht waren.
    Manche behaupten, als man sie in den Sarg legte, habe sie die Sargträger verflucht und mit dem Fuß den Sargdeckel weggestoßen ...
     
     
10
     
    Ich war seit zehn Jahren nicht mehr zu Hause im Dorf gewesen. Nun stand ich vor dem Grab meiner Zweiten Großmutter. Was hatte ich aus der Stadt mitgebracht? Die verlogenen Gefühle, mit denen ich mich in der besseren Gesellschaft infiziert hatte, und
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