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Das Pubertier

Das Pubertier

Titel: Das Pubertier
Autoren: Jan Weiler
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«Stangenfieber» von Herrn Kohlschein rezitiert. Der ist Arzt, und ich vermute, dass er keine große Übung im Vortragen von Lyrik hat. Man hätte es auch schöner lesen können. Er brachte es mit geringer Emphase, etwa so: «Rosen sind Titten. Veilchen sind Titten. Ich mag Titten. Titten.»
    Als der Orthopäde geendet und sich wieder hingesetzt hatte, machte sich die Hälfte der anwesenden Frauen Gedanken über ihn. Die andere Hälfte ließ ihrer Empörung freien Lauf. Das sei impertinent, sexistisch, frauenverachtend, blöd, besitze keinerlei Charme und sei regelrecht krank, urteilten die ersten Redner. Daniel und seine Eltern sagten nichts. Dann dozierte Herr Kohlschein, dieses Gedicht sei ein Werk der «Generation Porno». Den Begriff habe er im «Stern» gelesen, fügte er stolz hinzu. Es sei widerlich und Ausdruck einer vollkommenen kulturellen Verrohung. Man müsse sich mit aller Macht gegen diesen Dreck stemmen.
    Dann wurde ich gefragt, was ich von diesem Werk hielte. Ich? Ja. Nun. Als Schriftsteller müsse ich doch eine Meinung haben, forderte Herr Kohlschein. Da ist was dran. Aber leider bin ich ganz schlecht in Lyrik. Ich habe die letzten Würfe von Günter Grass nicht einmal als Gedichte identifiziert. Ich dachte erst, es handele sich dabei um halbdurchdachte Prosa mit unglücklichen Zeilenumbrüchen. Aber ich bin ja auch kein Literaturkritiker. Sollen die sich den Kopf darüber zerbrechen, was ein Gedicht ist. Und ob es was taugt.
    Die Qualität der von Daniel zuwege gebrachten Ergüsse kann ich nicht beurteilen. Seinen Mut aber schon. Ich sagte: «Ich wünschte, ich hätte mit fünfzehn die Courage besessen, so etwas zu schreiben.»

    Da stand Kohlschein auf und rief: «Pfui Deibel.» Dann verließ er den Klassenraum. Es folgte eine zweistündige Diskussion, die darin mündete, dass sämtliche Eltern sich gegenseitig erzählten, was sie sich alles mit fünfzehn Jahren nicht getraut, was sie versäumt oder im Erwachsenenleben längst vergessen haben. Die Angelegenheit endete mit einem glatten Freispruch. Einige Eltern gingen noch in eine Kneipe, um sich weiter auszutauschen.
    Daniel kam auf mich zu und sagte: «Wenn Ihnen das so gut gefallen hat: Da, wo das herkommt, da ist noch mehr. Ich habe noch ganz andere Sachen in der Schublade. Wenn Sie wollen, kann ich es Ihnen mal mailen.»
    Ich bedankte mich und sagte, dass ich mich melden würde, wenn mir nach einem Gedicht von ihm sei. Ich nehme aber nicht an, dass es dazu kommt. Dann fuhr ich nach Hause. Ich weiß nicht, warum, aber ich musste die ganze Zeit wahnsinnig laut grinsen.

Essen im Grünen
    Gibt es denn überhaupt etwas Romantischeres als ein Picknick? Oh ja! Ich würde sogar sagen, dass die meisten Tätigkeiten romantischer sind als ein Picknick, und das schließt Verrichtungen wie mit Zahnseide zwischen den Zähnen herumfummeln, Siphons wechseln und E 10 -Tanken ausdrücklich ein. Ich sage das mit dieser Entschiedenheit, weil ich gerade von einem Picknick komme.
    Die Idee, überhaupt eines zu veranstalten, stammte ausgerechnet von mir und hatte mit meinen Schuldgefühlen zu tun. Man macht sich doch ständig Gedanken darüber, ob man auch wirklich genug Zeit mit den Kindern verbringt. Und mit der Frau. Und überhaupt. Ich stand im Keller und hatte völlig vergessen, was ich dort wollte, da fiel mein Blick auf einen Kasten aus Flechtwerk. Ich nahm das Ding aus dem Regal und schaute hinein, ob vielleicht vergessener Wein oder Golddublonen darin seien. Es handelte sich aber lediglich um einen noch nie benutzten Picknickkorb, wahrscheinlich eine Aboprämie. Davon haben wir im Lauf der Jahre einige erhalten. Wir besitzen auch noch ein Lerntöpfchen (wenn man reinpinkelt, kommt eine Melodie, ich habe es ausprobiert), einen nach Plastik stinkenden Sandwichtoaster und eine Diagnosewaage, auf die ich mich nicht wage.
    Der Picknickkorb enthielt alles, was man braucht, wenn man in der heimischen Flora tafeln möchte, allerdings kein Essen. Das muss man vorher zubereiten. Ich nahm den Korb mit nach oben und präsentierte meiner Familie das Projekt «Ausflug»:
    «So, alle mal herhören. Wir machen jetzt ein Picknick.»
    Unsere Tochter wollte sofort nicht mitmachen. Ihr sei das zu spießig, erklärte sie. Sie ist in einem Alter, wo man ungern etwas Neues ausprobiert, jedenfalls wenn die Idee dafür vom eigenen Vater kommt. Pubertiere sind konservative Geschöpfe, ganz ähnlich wie Zoobewohner. Sie möchten regelmäßig etwas zu essen, was sie nicht selbst
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