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Das Pubertier

Das Pubertier

Titel: Das Pubertier
Autoren: Jan Weiler
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der Zeitdauer im intellektuellen Stoffwechsel eines weiblichen Pubertiers beschäftigt, kommt um folgende Definition nicht herum: Zeit = Föhn × Haar.

    Diese fundamentale Formel basiert zunächst einmal auf der Entdeckung, dass ein Zeitbegriff bei einem Pubertier gar nicht existiert. Die Verteilung des Zeitkontingentes eines Tages erfolgt beim Pubertier daher recht willkürlich. Es kann sein, dass das Schmieren einer Scheibe Mischbrot mit Butter und Marmelade bis zu sieben Minuten dauert, weil das Pubertier großen Wert auf akkurate Arbeitsweise legt und dem Brot damit seinen Respekt erweisen will. Die Anfertigung von Hausaufgaben oder die Beantwortung von elterlichen Anfragen sind hingegen häufig in Sekundenbruchteilen erledigt.
    Der Versuchsleiter hat sich zum Beleg dieser These eine Stoppuhr bereitgelegt und wartet darauf, dass das Pubertier die Treppe herunterkommt. Es hat am Vorabend gegen 19 : 30  Uhr die Versuchsanordnung verlassen und war auf einer Party, von der es um 2 : 37  Uhr nach Hause kam.
    Das Pubertier erscheint um 14 : 07 in Schlafkleidung am Esstisch. Der Versuchsleiter nimmt die Stoppuhr zur Hand und fragt, wie die Party gewesen sei. Das Pubertier benötigt für die Antwort handgestoppte drei hundertstel Sekunden: «Schön.» Mehr Informationen sind ihm nicht zu entlocken. Eine Party, die immerhin sechs Stunden gedauert hat und während deren allerhand passiert sein wird, auf einen Bericht von weniger als einer halben Sekunde Länge zu verknappen, ist schon eine Meisterleistung der Reduktion.
    Ähnlich verhält es sich bei allen anderen Themen, von denen das Pubertier findet, dass sie die Eltern nichts angehen. Der Versuchsleiter fragt, ob es Alkohol gegeben habe. «Hm.» Und ob sich jemand übergeben habe. «Joah.» Sonst alles lustig gewesen? Hierauf entbietet das Pubertier ein langes Gähnen, flehmt den Versuchsleiter an wie ein Dressurpferd im Regen und geht zurück in die Versuchsanordnung, bisschen pennen.
    Dafür nimmt es sich erstaunlich viel Zeit. Ein Pubertier kann mühelos vierzehn Stunden schlafen, und wenn es zwischendurch aufsteht, um die Toilette aufzusuchen, bedeutet das keineswegs, dass es aufgewacht wäre.
    Der Versuchsleiter betritt gegen 18  Uhr die Versuchsanordnung, um das Pubertier zum Essen zu bitten, woraufhin das Versuchsobjekt duscht und sich ausgiebig die Haare föhnt. Diese sind dann sehr warm, das Essen hingegen ist kalt. Das Pubertier äußert, man habe nicht auf es gewartet und sei nun selbst schuld.
    Die Aufforderung, noch ein paar Vokabeln zu lernen, wird letztgültig abgewiesen. Das Pubertier erklärt, dafür habe es absolut keine Zeit. Es habe wahnsinnig viel zu tun. Ein Blick auf seine Facebook-Seite bestätigt diese Auskunft auf dramatische Weise. Da sind tatsächlich noch einundzwanzig Nachrichten zu beantworten. Dafür braucht ein Pubertier mindestens eineinhalb Stunden. An das Reinbimsen von Vokabeln ist bei dem mageren Zeitbudget des Pubertiers nicht zu denken. Der Versuchsleiter schließt verständnisvoll die Tür der Versuchsanordnung, macht sich ein Bier auf und Notizen.

Stangenfieber
    Skandal im Deutschunterricht. Natürlich wurde sofort ein Elternabend einberufen, um die erhitzten Gemüter zu beruhigen. Ich war auch da.
    Was war passiert? Das fragten auch einige Eltern zu Beginn der Veranstaltung, und deshalb erläuterte die Lehrerin Frau Blum den Sachverhalt. Und zwar habe sie die Idee gehabt, die pubertierende Klasse Gedichte schreiben zu lassen, und die Jugendlichen ermutigt, ihren romantischen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Am Dienstag habe sie dann darum gebeten, dass die in Heimarbeit angefertigten Ergebnisse reihum vorgetragen würden, damit man anschließend darüber diskutieren könne. Es seien ganz erbauliche Leistungen dabei gewesen, wenn auch nur von den Mädchen. Die Jungen hätten sich gedrückt oder im Internet «romantische Gedichte» gegoogelt, etwas von Heine oder Rilke kopiert und als eigene Werke ausgegeben. Dann sei Daniel dran gewesen. Und wegen seines Gedichtes seien wir nun hier. Seinen Dreizeiler hatte ein Mädchen zu Hause rezitiert, und ihre Eltern waren Minuten später in der Schule vorstellig geworden. Sie verlangten, Daniel vom Gymnasium zu werfen. Daniel und seine Eltern saßen ganz außen. Er tat mir leid.
    Ein Vater fragte, ob man das Gedicht mal hören könne, dessen Ungeheuerlichkeit sich sonst nur ganz schwer beurteilen lasse. Frau Blum weigerte sich aber, es vorzulesen. Also wurde das Poem mit dem Titel
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