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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies
Autoren: Barbara Wood
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Träume quälten sie mit beängstigenden Bildern im Schlaf – waren es Erinnerungen? Sie wußte nicht, ob die Dinge, die sie in den Träumen erlebte, auf tatsächlichen Ereignissen beruhten oder nicht. Aber wann immer die Träume sich einstellten, warfen sie ihren Schatten auf den Tag, und Khadija mußte die Vergangenheit in der Gegenwart durchleben, wenn es tatsächlich Erinnerungen aus einer vergangenen Zeit waren. Zwei Leben schienen sich gleichzeitig vor ihren Augen zu entfalten. In dem einen war das kleine Mädchen dem Terror hilflos ausgeliefert, und im anderen versuchte die erwachsene Frau in einer unberechenbaren Welt Ordnung zu schaffen und ihr einen Sinn zu geben.
    »Das Kind …«, murmelte Khadija, und ihr fiel wieder ein, daß ihre Schwiegertochter in den Wehen lag. Wie lange hatte sie wohl geschlafen? Im Haus schien es eigenartig still zu sein.
    Bei jeder Geburt im Raschid-Haus in der Paradies-Straße stellten sich die Traumbilder ein und störten ihren Schlaf. Waren es vielleicht Vorboten der Zukunft? Um sich zu beruhigen, ging Khadija in das angenehm nach Mandeln duftende Marmorbad und ließ aus dem goldenen Hahn kaltes Wasser über die Hände laufen, ohne das Licht einzuschalten. Sie betrachtete sich im Spiegel und sah, wie der Mond ihr Gesicht erschreckend weiß erscheinen ließ. Unwillkürlich mußte sie an ihren Mann denken, der bereits fünf Jahre im Grab lag.
    Sie wusch sich das Gesicht mit dem kalten Wasser und trocknete es sorgfältig mit einem Leinenhandtuch. Dann kämmte sie sich die Haare und strich über den langen Rock. Khadija hatte sich angekleidet auf das Bett gelegt, weil sie damit rechnete, zu ihrer Schwiegertochter gerufen zu werden, wenn es soweit war. Nachdenklich ging sie in das Schlafzimmer zurück. Im Mondlicht sah sie das Photo auf dem Nachttisch. Es schimmerte eigenartig, und der Mann in dem silbernen Rahmen schien sie stumm anzulächeln.
    Sie nahm Alis Bild in die Hände. Wie immer, wenn sie etwas bedrückte, suchte sie Trost bei ihm. »Was bedeuten die Träume, geliebter Mann?« fragte sie.
    Es war eine ruhige Nacht bei den Raschids. Alle nahmen Rücksicht auf Khadijas Schwiegertochter, denn die junge Frau stand vor der großen Aufgabe, ihr erstes Kind gesund auf die Welt zu bringen. »Sag mir«, bat Khadija leise den Mann mit dem eindrucksvollen Schnurrbart unter der Hakennase, »warum kommen diese Träume immer dann, wenn ein Kind geboren wird? Ist es ein Omen, das ich nicht verstehe, oder sind es die Bilder meiner Angst?« Sie seufzte. »Ali, was ist in meiner Kindheit geschehen, daß ich jedesmal von Grauen und Entsetzen gepeinigt werde, wenn ein neues Leben in diese Familie kommt?« Khadija träumte manchmal auch von einem kleinen Mädchen, das verzweifelt schluchzte. Aber sie wußte nicht, wer das Kind war. »Bin ich das?« fragte sie ihren Mann auf dem Photo. »Nur du kanntest das Geheimnis meiner Herkunft, geliebter Mann. Vielleicht hast du noch mehr gewußt, es mir aber nie gesagt. Du warst ein erwachsener Mann und ich noch ein Kind, als du mich in dein Haus geholt hast. Warum kann ich mich nicht an mein Leben davor erinnern?«
    Als sie auf ihre Frage nur das Rascheln der Blätter im Garten hörte, stellte sie das Photo wieder auf den Nachttisch zurück. Was Ali auch gewußt haben mochte, er hatte sein Wissen mit ins Grab genommen. Deshalb gab es für Khadija Raschid keine Antworten auf die Fragen nach ihrer Familie, nach ihrer Herkunft, nach ihrem Geburtsnamen. Niemand in der Familie kannte ihr Geheimnis. Als ihre Kinder noch klein gewesen waren und sich nach den Verwandten ihrer Mutter erkundigten, antwortete sie immer ausweichend: »Mein Leben begann an dem Tag, an dem ich euren Vater geheiratet habe. Seine Familie wurde auch meine Familie«, denn Khadija hatte keine Erinnerungen an ihre Kindheit, nur die geheimnisvollen Träume …
    »Herrin?« hörte sie eine Stimme an der Tür.
    Khadija drehte sich um. Die alte Magd, die schon vor Khadijas Geburt bei den Raschids gedient hatte, stand im Zimmer. Khadija fragte: »Ist es soweit?«
    »Ja, Herrin, es ist bald soweit.«
    Khadija schob den Traum und ihre Fragen beiseite und eilte durch den langen Gang zur Treppe. Ihre Schritte waren auf den kostbaren Teppichen fast unhörbar. In den Kristallvasen und goldenen Kandelabern spiegelte sich ihr Bild.
    Neben der Treppe stand ein kleiner Junge und fragte sie ängstlich: »Stirbt die Tante?« Der Wind wehte inzwischen stürmisch und übertönte das Stöhnen aus dem
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