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Das Paradies

Das Paradies

Titel: Das Paradies
Autoren: Barbara Wood
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Gericht.«
    Khadija hob die Hand mit der zarten Haut, unter der sich die dunkelblauen Adern deutlich von dem weißen Gewand abhoben, und nahm den Schleier vom Gesicht. Als die weiße Seide zur Seite fiel, sah Amira ihre gealterten Züge, aber noch immer war die Schönheit von einst unverkennbar, als Khadija mit überraschend sanfter und jugendlicher Stimme sagte: »Nur du, Amira, kannst Gottes Fluch von unserer Familie nehmen. Es ist in deine Hände gegeben.«
    Amira starrte sie voll Entsetzen an. Sie hörte wieder Khadijas Worte an jenem Abend in Kairo, als sie erklärt hatte: »In der Stunde deiner Geburt fiel ein Fluch auf unsere Familie.« Seit sechsundzwanzig Jahren lebte Amira in dem schrecklichen Bewußtsein: Ich habe meiner Familie Unheil gebracht …
    Khadija schien ihre Gedanken zu lesen und sagte: »Du bist nicht schuld an diesem Fluch, obwohl er in der Nacht deiner Geburt uns alle aufs neue traf. Ein anderer hat diesen Fluch über uns gebracht.« Und sie dachte: Jetzt weiß ich, wer es war. Aber dieses Geheimnis wollte sie mit ins Grab nehmen, wenn der Fluch von ihnen allen genommen sein würde.
    Amira blickte auf den Nil, der in dem letzten Licht des Tages noch einmal blaßblau schimmerte, ehe er völlig schwarz wurde. Feluken – schmale Boote mit dreieckigen Segeln – zogen geometrische Wellen über das Wasser; die hohen Dattelpalmen wurden vor dem Nachthimmel zu zottigen Silhouetten.
    Geliebte und vertraute Namen fielen Amira ein – Jasmina, Tahia und Mohammed. Diese Namen waren ihr in all den Jahren nie über die Lippen gekommen. Jetzt sehnte sie sich danach, sie auszusprechen. Amira wollte wissen: Leben sie noch? Fragen sie nach mir? Aber diese Genugtuung würde sie Khadija nicht gewähren. »Du hast mich sechs- undzwanzig Jahre in dem Glauben gelassen, ich hätte meine Familie ins Unglück gestürzt und sei von Gott verflucht worden. Du hast mir all mein Glück, meine Liebe und eine Familie geraubt. Warum sollte ich dir helfen? Und warum gerade ich?«
    »Weil mir nur noch wenig Zeit bleibt, Amira«, erwiderte Khadija ruhig. »Komm mit mir nach Kairo zurück. Du bist Ärztin, du mußt deine Familie heilen.«
    Als Amira verbittert den Kopf schüttelte und stumm auf den Fluß starrte, fügte Khadija leise hinzu: »Wir dürfen keine Feindinnen sein, Amira. Du bist meine Enkeltochter, und ich liebe dich aus ganzem Herzen.«
    »In aller Achtung vor dir, Großmutter, ich kann nicht vergessen, was damals geschehen ist …«
    »Es war für uns alle traurig, mein armes Kind. Aber laß dir sagen, ich habe als kleines Mädchen etwas so Schreckliches erlebt, daß ich nur noch weinen konnte. Ich habe geweint, bis keine Tränen mehr kamen und ich zu sterben glaubte. Ich bin nicht gestorben, aber in meinem tiefsten Innern blieb eine grauenhafte Angst zurück. Damals habe ich geschworen, daß ich meine Kinder vor solchen Qualen schützen würde. Ibrahim war mein Sohn und ist dein Vater. Amira, ich konnte mich damals nicht gegen ihn stellen. Nach dem Gesetz kann ein Mann mit seinen Kindern tun, was ihm beliebt. Er ist Herr über seine Familie. Aber ich habe um dich getrauert, Amira.«
    Amira erstarrte. Hatte Khadija deshalb das Telegramm geschickt? Mit zitternder Stimme fragte sie: »Ist mein Vater … ist er tot?«
    »Nein, Amira, dein Vater lebt noch. Aber um sein Leben zu retten, bitte ich dich, nach Hause zu kommen. Er ist sehr krank, Amira. Er liegt im Sterben. Er braucht dich.«
    »Hat er dich darum gebeten, mich zurückzuholen?.«
    Khadija schüttelte den Kopf. »Dein Vater weiß nicht, daß du hier bist. Ich habe gefürchtet, wenn er erfährt, daß ich bei dir bin und du vielleicht nicht mit mir kommst, dann würde ihn das völlig vernichten.«
    Amira mußte mit den Tränen kämpfen. »Warum stirbt er? Was für eine Krankheit ist es?«
    »Nicht sein Körper ist krank, Amira, sondern seine Seele. Seine Seele stirbt. Er hat den Willen verloren zu leben.«
    »Wie kann
ich
ihn dann noch retten?«
    »Er stirbt auch deinetwegen. An dem Tag, an dem du Ägypten verlassen hast, verlor er seinen Glauben. Er war überzeugt davon, daß Gott ihn verlassen hatte. Das glaubt er noch immer. Amira, du darfst deinen Vater nicht so sterben lassen, denn dann wird Gott ihn wirklich verlassen, und er kommt nicht in das Paradies.«
    »Es ist seine Schuld …«, aber Amira versagte die Stimme.
    »Amira! Glaubst du wirklich, daß du alles weißt? Glaubst du zu wissen, warum dein Vater das tat, was er getan hat? Kennst du
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