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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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inzwischen alle in den verführerischen Gesang eingestimmt haben.
    Nirgends habe ich je so bildlich und ursprünglich den Moment vor Augen geführt bekommen, in dem die Geschlechter aufeinandertreffen:
     Man bleibt kurz stehen, sucht einander mit Blicken, lächelt scheu, tanzt weiter. Die Männer beugen sich nach vorn, stampfen
     mit den Stiefeln auf den Boden, beugen sich nach hinten und ziehen wieder ihre Kreise. Die Frauen heben die Arme und singen
     immer lauter, je stürmischer die Bewegungen der Männer werden und je lauter sie mit ihren Stiefeln aufstampfen.
    Ich entdecke Non Chi am Ende des Halbkreises der tanzenden Frauen. Unwillkürlich habe ich es die ganze Zeit vermieden, sie
     anzusehen, als wollte ich ihrem kritischen Blick ausweichen. Doch in dieser Runde ist sie wie verwandelt. Die gestrenge Matriarchin
     lächelt im Licht des Feuers, hat den Kopf zur Schulter geneigt und singt.
    »Komm, tanz mit, komm.«
    Wenn es um Verführung geht, legen die Matriarchinnen ihre Autorität ab, sie lassen sich mit Vergnügen von den Männern umwerben,
     spielen mit ihren weiblichen Reizen und sind gewillt, sich dem Begehren hinzugeben. Die Männer gebärden sich mit einem Mal
     betont männlich, um sie zu erobern. |148| Es scheint, als ob die Spielregeln des Matriarchats um der erotischen Anziehung willen in der Nacht außer Kraft gesetzt würden.
    Die Halbkreise schließen sich, Männer und Frauen formen nun einen einzigen großen Kreis.
    »Komm, tanz mit, komm.«
    Die Männer demonstrieren ihre Männlichkeit und Stärke, sie stampfen und springen in die Höhe. Gesang und Tanz werden dynamischer.
    Lei und Jin Sik steuern auf mich zu. Sie flüstert ihm etwas zu und deutet dabei auf mich.
    »Sie lädt dich ein mitzumachen.«
    Jin zeigt auf ihren bunten Gürtel. Es ist der, den ich für ihre Freundin ausgewählt hatte.
    »Das ist sehr nett, danke, später vielleicht«, sage ich. »Ich möchte noch ein paar Fotos machen.«
    Keine Chance, meine fadenscheinige Ausrede wurde als solche entlarvt. Jin Sik nimmt einfach meine Hand, und ehe ich mich versehe,
     bin ich Teil des Kreises. Sie lacht. Ich stelle mich reichlich ungeschickt an, aber was wie eine simple, leicht zu durchschauende
     Choreografie aussah, entpuppt sich als überaus komplexer Bewegungsablauf, dem ich nur schwer folgen kann.
    Li Jien tanzt nahe bei Han Tsie. Han Tsie sieht sie an und nickt.
    Selbstverständlich kann der Auserwählte die |149| Einladung auch ausschlagen. Das führt weder zu Klage noch zu Wut. Niemand wird unter Druck gesetzt, und Eifersucht ist verpönt,
     denn damit erhöbe man einen Besitzanspruch auf den anderen, was in der Überzeugung der Mosuo wider die Natur des Begehrens
     ist. Jemand, der einen solchen Alleinanspruch formuliert, verhält sich gegen die allgemeinen Gepflogenheiten und wird zur
     Zielscheibe des Spotts.
    Li Jien hatte mir gesagt, ich solle auf die Blicke achten. Wenn ein Mädchen sich für einen jungen Mann interessiert, sucht
     sie zunächst seinen Blick, eine unaufdringliche Form der Kontaktaufnahme, mehr Einladung denn Aufforderung. Geht der andere
     nicht darauf ein, ist es, als sei nichts geschehen. Frauen verstehen sich auf die Kunst der vieldeutigen Blicke, bei uns Männern
     ist das Potential deutlich eingeschränkter.
    »Es ist deine Art zu schauen, sie ist anders«, sagte Rugeshi Ana einmal zu mir, als ich sie danach fragte. Heute Abend trägt
     sie die Mosuo-Tracht, ich hätte sie fast nicht wiedererkannt.
    Und wie das Leben so spielt: Immer wenn es am schönsten ist, fängt es an zu regnen. Doch der Reigen dreht sich weiter, niemand
     stört sich daran.
    Mich hingegen macht all die Liebestollheit um |150| mich herum nicht immun gegen das Wasser, ich suche Schutz unter einem Dachvorsprung.
    Wenig später gesellt sich Nan Tsi Tsuma zu mir. Sie ist zweiundzwanzig und hat einen schlechten Tag, das sieht man ihr auf
     Anhieb an.
    Unser Gespräch nimmt sich zunächst aus wie eine Hommage an den Gemeinplatz: das Wetter, die Leute, die Vor- und Nachteile,
     Chinese oder Argentinier zu sein.
    Doch plötzlich stellt Nan Tsi mir eine sehr direkte Frage zu meinem Privatleben. Ich fange an, ihr von mir zu erzählen, von
     den Menschen, die mir nahestehen. Schließlich traue ich mich, ein etwas intimeres Thema anzuschneiden: »Wann wird eine Besuchsehe
     zur Liebesbeziehung?«
    »Wenn du merkst, du kannst dich auch gut unterhalten, geht die Besuchsehe schon über das Übliche hinaus. Dann gilt es nicht
     mehr nur, Spaß
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