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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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Männer.
    Die Holzwände in Li Jiens Gemach schmücken Bilder mit Motiven in Rot, der Farbe des Glücks. Es handelt sich um Darstellungen
     mythischer Krieger mit furchterregenden Masken, die sie vor Unglück schützen. An der Längsseite des Raums stehen ein Schrank
     und eine Bank, über die abends zum Schlafen eine gefütterte Decke gelegt wird. |129| Auf der Fensterbank steht allerlei Zierrat, unter anderem die kleine Plastik, die ich ihr am Vortag geschenkt habe. Sie stellt
     ein Tangopaar dar. Ich musste Li Jien erklären, was es damit auf sich hat (auf Englisch zur Übersetzung ins Chinesische, dann
     zur Übersetzung in eine für die Mosuo-Frau begreifbare Version). Es handele sich um eine typische Szene in Buenos Aires: Ein
     Mann und eine Frau tanzen engumschlungen, er führt, und sie lässt sich führen.
    In diesem Augenblick nimmt Li Jien die Statuette noch einmal zur Hand, setzt sich neben mich und fragt: »Hat die Frau denn
     keine Angst zu fallen?«
    »Nein, der Mann hält sie ja, sie vertraut ihm.«
    Sie schweigt einen Moment, dann fragt sie weiter: »Tanzt du gern?«
    Ich räuspere mich. »Nein, nicht besonders.«
    »Wir fiebern immer sehr auf die Abende hin, an denen getanzt wird. Heute Abend treffen wir uns alle im Dorf, es werden auch
     Leute aus den Mosuo-Dörfern der Umgebung kommen.«
    »Heute Abend? Schade, ausgerechnet heute wollte ich euch im Hof ein paar Tango-Schritte beibringen …«
    Sie dreht das Tangopaar in der Hand und fühlt sich sichtlich geschmeichelt, dass mir ihre Anwesenheit fehlen wird.
    |130| »Wann fängt euer Fest denn an?«, frage ich, nach einem Ausweg suchend.
    »Es fängt an, wenn ich mich mit meinen Freundinnen treffe, damit wir uns zusammen fertigmachen.« Und nach einer kurzen Pause
     sagt sie: »Ich warte nach dem Abendessen hier auf dich, meine Freundinnen wollen dich kennenlernen.«

[ Menü ]
    |131| 19
    Li Jien findet es amüsant, mich im Beisein ihrer Freundinnen Non Chi und Jin Sik in ihrem Reich zu empfangen. Unauffällig
     stelle ich einen kleinen Kassettenrekorder auf dem Tisch hinter der Blumenvase ab. Ich würde den Damen gern ein bisschen Tangomusik
     vorspielen.
    Doch sie unterhalten sich so angeregt, dass ich mich beinahe überflüssig fühle. Sie probieren allerlei Kopfschmuck aus, lachen
     und werfen nur manchmal, wie beiläufig, Blicke zu mir herüber. Der Spiegel, vor dem sie sich abwechselnd betrachten, ist so
     platziert, dass sie mich genau im Auge haben, während sie sich zurechtmachen. Ich habe den Verdacht, dass sie ihn bewusst
     so hingestellt haben. Sie warten darauf, dass etwas passiert, dass ich mit meiner Kamera an sie herantrete und sie interviewe.
     Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Lei schaut mir bei meinen Vorbereitungen zu, er sitzt neben mir und raucht.
    Dorje, meinen tibetischen Fahrer, habe ich nach |132| dem Abendessen mit einer Ausrede abgeschüttelt. Seine Anwesenheit bei Gesprächen hat sich schon etliche Male als echtes Problem
     erwiesen. Er ist alles andere als ein über das Materielle erhabener Asket – wie man sich den Tibeter doch gemeinhin vorstellt.
     Im Gegenteil, Dorje huldigt dem Orden des amerikanischen Dollars. Für den Erwerb des protzigen Wagens, in dem wir unterwegs
     sind, muss in China eine Großfamilie zusammenlegen. Und seit wir das Geröll auf dem Höhenweg, der hierherführt, hinter uns
     gelassen haben, gilt sein ausgeprägtes Interesse den erotischen Legenden, die über die Frauen im Umlauf sind. Seine großsprecherischen
     Reden bestehen vor allen Dingen aus Gemeinplätzen, er glaubt zu wissen, was Frauen gefällt und was nicht. Und egal, mit wem
     ich mich unterhalte, immer muss er seinen Senf dazugeben.
    Seine derben Scherze und Einwürfe während meiner Interviews haben mehr als einmal verhindert, die Vertrauensbasis zu schaffen,
     die nötig gewesen wäre, um jenseits der steifen Etikette Persönliches über den Gesprächspartner zu erfahren.
    Dabei ist Dorje im Grunde seines Herzens ein gutmütiger Kerl, und er erfüllt zuverlässig und ohne Murren all die kleinen Aufträge,
     mit denen |133| ich ihn überhäufe, um ihn zu beschäftigen. Er kann überhaupt nicht verstehen, dass wir seine Bemerkungen nicht lustig finden.
    Dorje ist vermutlich der Typ Mann, der dazu beiträgt, dass die matriarchalischen Gesellschaften noch radikaler werden.
    Die jungen Damen begutachten sich gegenseitig. Sie tragen, wie alle erwachsenen Frauen im Dorf, weiße Röcke, die ein unifarbener
     Streifen
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