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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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ziert. Auch beim Stoff der Kasacks ist die Auswahl nicht allzu groß: Er ist violett oder rot, rot mit goldenen Blumen
     oder glänzend grün mit gelbem Muster. Doch die Mosuo kommen mit sehr wenig aus, um sich herauszuputzen. Ich muss an die Frauen
     in Saudi-Arabien denken, die außerhalb der Wohnung stets das schwarze Gewand, die Abbaja, tragen und bis auf einen Schlitz
     für die Augen nichts von ihrem Körper zeigen. Doch es ist unglaublich, was sie aus diesem Schlitz machen: Er kann verschieden
     geformt, verziert sein, die Augen bedecken oder hervorheben. Selbst auf dieser schmalen Bühne bleibt unter der härtesten Zensur
     noch Raum für Kühnheit. Ein Schlitz, der ein wenig mehr von der Stirn zeigt, der einen Zentimeter über den Augenbrauen endet,
     kann denselben Effekt haben wie ein Minirock. Und die Frauen dort präsentieren sich mit demselben Stolz und demselben Wissen
     um ihre |134| Wirkung wie ihre Geschlechtsgenossinnen im Westen.
    Zurück zu Li Jien, Non Chi und Jin Sik. Die Art, wie sie sich zurechtmachen und darauf achten, dass auch die kleinste Nuance
     stimmt, lässt mich beinahe vermuten, dass alle drei mindestens professionelle Friseurinnen, Schneiderinnen oder Visagistinnen
     sind.
    Die Mosuo-Frauen sind kokett. Warum auch nicht? Ich muss mich immer wieder selbst dazu anhalten, mich von Vorurteilen zu lösen.
     Aber die Stimme meines Unterbewusstseins ist hartnäckig, wie ein kleiner neckischer Kobold, der gegen meinen Verstand zu rebellieren
     versucht.
    Draußen wird es allmählich dunkel. Ich schaue aus dem Fenster zum See hin – auf der Straße Richtung Ufer ist kein Mensch zu
     entdecken. In der Ferne leuchten die Lichter des buddhistischen Insel-Klosters und noch weiter weg die eines anderen Mosuo-Dorfes.
     Es liegt in Sichuan.
    Obwohl es kein elektrisches Licht gibt, hängt eine Lampe von der Decke. Sie sagen, hin und wieder gäbe es Strom. Das halte
     ich für ein Gerücht. Auf einem Tisch steht eine brennende Öllampe, am hellsten aber strahlt Li Jiens Lächeln. Ich weiß nicht,
     ob sie der chinesischen Vorstellung von Schönheit entspricht, in meinen Augen tut sie es |135| voll und ganz. Sie geht nicht, sondern sie schwebt durch Räume. Auch Gegenstände scheinen in ihren Händen kein Gewicht mehr
     zu haben.
    Sie ist eine junge Frau, die das Treffen mit Han Tsie bei dem Tanz im Dorf herbeisehnt und ihn zur Liebe animieren will. Gerade
     widmet sie sich dem letzten Schliff der Tracht ihrer Freundin. Sie nimmt einen bunten Gürtel und bindet ihn ihr um, doch sie
     ist nicht überzeugt, legt ihn weg und sucht einen anderen. Die Gürtel, Schnallen und Tücher liegen ganz in meiner Nähe, ich
     reiche ihr einen. Sie kichert amüsiert, legt ihn wieder auf den Stapel und wählt einen anderen aus, der besser passt.

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    Non Chi geht auf den Kassettenrekorder zu und stellt die Musik leiser. Sie sagt, sie habe eine harte Woche hinter sich. Ihre
     Schwester sei krank geworden und sie habe die Arbeit für beide übernehmen müssen. Das hieß, dass sie früher aufstehen musste
     und später zu Bett ging als sonst. Und immer blieb etwas unerledigt, ganz gleich, wie sehr sie sich beeilte.
    Non Chi ist dabei, Schritt für Schritt die Zügel im Haus zu übernehmen. Sie ist die älteste Tochter, und ihre Mutter delegiert
     immer mehr Aufgaben an sie. Non Chi legt selbst in dieser lockeren Atmosphäre ein herrisches Gebaren an den Tag, auch mir
     gegenüber, dem sie doch gar keine Befehle zu erteilen hat … Was hoffentlich auch so bleibt.
    Der Vergleich mag ein wenig hinken: Wie sie so dasitzt in ihrer strengen Haltung, das Kinn hebt und die Augen zusammenkneift,
     erinnert sie mich an einen Mann, der die Brust vorstreckt, um Eindruck zu schinden. Vielleicht verhält sie sich so, |137| weil ich aus dem Ausland komme und sie vermutet, dass auch solche Details Eingang in meinen Bericht finden.
    Sie erzählt, dass, wenn sie arbeitet, sie immer auch kontrollieren muss, was die anderen tun. So überprüft sie beispielsweise
     die Tiefe der Ackerfurchen und gibt ihren Brüdern Anweisungen für die Aussaat. Nach der Feldarbeit eilt sie zurück nach Hause,
     um das Essen zu organisieren. Sie verteilt die Küchenaufgaben unter ihren jüngeren Cousinen, während sich die Cousins im Haupthof
     bereithalten, um weitere Anweisungen entgegenzunehmen. Non Chis Wort, egal wie liebenswürdig vorgebracht, duldet keinen Widerspruch.
    Heute geht es ihrer Schwester wieder besser, und so hat sie
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