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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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der wegen der Schneeschmelze immer kaltes Wasser führt, und sie ist durchzogen von
     engen Kopfsteinpflastergassen und Kanälen, die an manchen Stellen direkt vor den Häusern vorbeifließen. Dort sieht man die
     Bewohner Töpfe und Geschirr in dem stetig fließenden Wasser abspülen, die Hände blau von |12| der Kälte. In der Tür eines dieser Häuser steht eine alte Frau mit riesiger Pfeife im Mund und zwei großen Weidenkörben auf
     der Schulter. Alter, Sonne und Bergluft haben ihr Gesicht gegerbt, kein Millimeter ist faltenlos. Sie bläst den Rauch in die
     Luft und grüßt mich.
    Die Provinz Yunnan weist weltweit die größte Konzentration an ethnischen Minderheiten auf. Es gibt hier mehr muslimische Chinesen
     mit weißen Wollmützen als Araber in ganz Saudi-Arabien. Die Naxi erkennt man an ihren blauen Schürzen, die Lisu überqueren,
     an einem Seil hängend, den Nujiang und kommen zum Einkaufen her, und die mit den roten Blumen an den Beinen, das sind die
     Bai-Mädchen. Die geschäftigen Zhuan tragen im Vergleich zu anderen Landsleuten immer das Doppelte an Gewicht auf ihren Schultern
     – ich weiß nicht, ob sie ihre Arbeit in der Hälfte der Zeit erledigen wollen oder ob sie vorsichtshalber stets das Doppelte
     von dem mitnehmen, was sie benötigen. Die Yi, wohl die zahlreichste Minderheit, sind auch schon von weitem unübersehbar: Die
     Frauen, bekleidet mit weißem Hemd und roter Weste, tragen schwarze Hüte von ungefähr einem Meter Durchmesser, die aussehen
     wie Dächer. Sie senken den Kopf, um fremden Blicken auszuweichen. Der Fremde bin ich. Unter all den traditionell gekleideten |13| Menschen bin ich mit Cargo-Hose, Reisehemd und Fotografenweste in diesem Teil von China eindeutig der exotischste Vogel und
     zweifellos der mit den meisten Taschen.
     
    Inzwischen haben wir die Zivilisation hinter uns gelassen. Eine Stunde ist vergangen, seit wir uns auf dem Gebirgspass einen
     Weg durch die Felsbrocken gebahnt haben, jetzt befinden wir uns im Land der Yi. Am Straßenrand entdecke ich immer wieder dunkel
     gekleidete Frauen mit zurückgebundenem Haar und sogar kleine Mädchen, die sich, schwer beladen mit Körben voller Holzscheite,
     den Berg hinaufkämpfen – als wäre das Lastentragen Teil der weiblichen Natur.
    Dorje und Lei verstricken sich in ein offenbar hochinteressantes Gespräch auf Mandarin, stundenlang diskutieren sie, bis irgendwann
     hinter einer Kurve der Lugu-See vor uns auftaucht.
    Das Panorama ist überwältigend: ein himmelblauer Spiegel aus stillem Wasser mit ein paar Inseln. Am liebsten würde ich aussteigen
     und mich ganz und gar in die Betrachtung dieser Naturschönheit versenken.
    Endlich erreichen wir Luoshui. Vor dem Haus, in dem ich untergebracht sein werde, empfängt mich eine freundliche Dame und
     zeigt mir, wo ich mein |14| Gepäck abstellen soll. Nach und nach finden sich die anderen Bewohner des Hauses ein und beäugen mich neugierig, aber auch
     misstrauisch. Sie sprechen mit Lei und zeigen auf mich. Derweil sehe ich mich ein wenig um und gewahre, in gebührendem Abstand
     gegen einen Pfeiler der Galerie gelehnt, die Matriarchin. Zu meiner Überraschung ist es eine junge Frau. Mit ernstem Gesichtsausdruck
     und einem kurzen Kopfnicken begrüßt sie mich.

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    Es existieren nur noch einige wenige Matriarchate auf der Welt. Und sie sind vom Aussterben bedroht.
    Eine dieser weiblich geprägten Gesellschaften ist die der Nagovisi auf der Insel Bougainville vor Papua-Neuguinea im Norden
     Australiens. Die Ländereien sind ausschließlich im Besitz von Frauen, und die Männer sind von den landwirtschaftlichen Erträgen
     ihrer Frauen abhängig. Die Ehe besteht dort im Wesentlichen darin, mit der Frau das Bett zu teilen und ihr bei der Landarbeit
     zu helfen. Niemals wird den Männern dieses Land (oder irgendein anderes im Dorf) gehören. Sie dürfen lediglich für die Frauen
     arbeiten. Wenn bei den Nagovisi ein Paar streitet, so heißt es, darf die Frau dem Mann die Frucht ihres Baumes verweigern.
     Sollte sich die Sache länger hinziehen, bleiben also nur noch Scheidung oder Hungertod. Doch das ist eine äußerst seltene
     Extremsituation. Gemeinhin werden die Nagovisi als sehr zufrieden mit ihrem Leben in der Gemeinschaft beschrieben.
    |16| Ein weiteres Beispiel sind die Minangkabau im Westen Sumatras. Dort erwirbt man durch Mutterschaft den höchsten Rang in der
     Familie. Die Frauen haben für Nahrung, Unterkunft sowie Schulbildung ihrer Kinder
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