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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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die Fenster hinausgehen.
     Meines ist offen, so dass ich deutlich die Stimme der Matriarchin vernehme, die ihre strengen Befehle erteilt. Sie heißt Yasi,
     ist, wie ich bereits erwähnte, auffallend jung, aber auch auffallend attraktiv und auffallend energisch und hat mich offenbar
     völlig vergessen, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich gut untergebracht bin.
    In einer Ecke des Hofes sitzen zwei Männer. Schnurstracks marschiert die Matriarchin mit ausgestrecktem Arm auf sie zu und
     herrscht sie lautstark an. Die Kerle springen auf, schnappen sich jeder einen Korb und rücken ab.
    |21| Als wieder Ruhe einkehrt, wage ich, den Kopf aus dem Fenster zu stecken. Keiner mehr da, auch die Matriarchin ist verschwunden.
     Also traue ich mich in den Hof und erkunde das Terrain. Die Außenwände sind in Rot-, Blau- und Gelbtönen gestrichen. Wie bei
     einer Pagode haben die vorragenden Gesimse und Dächer spitze, nach oben gezogene Enden. Sie sehen aus wie türkische Pantoffeln.
     Die Tür zur Straße ist der Haupteingang, durch den soeben zwei mit Körben beladene Männer gesenkten Hauptes das Haus verlassen
     haben.
    Ich schlendere zum ältesten Gebäudeflügel hinüber, dem sogenannten traditionellen Haus. Auf dem Boden in der Mitte eines großen
     Raumes brennen den ganzen Tag über Holzscheite. Die Feuerstelle ist in jedem Mosuo-Haushalt von zentraler Bedeutung. Und natürlich
     ist die Frau dafür verantwortlich, dass das Feuer nie ausgeht.
    Die Wände um das Feuer sind verrußt, und in der Decke befinden sich fingerbreite Ritzen, durch die der Rauch entweichen kann.
     In diesem Teil des Hauses ist es immer warm. Hier wird gekocht, in riesigen gusseisernen Töpfen, und später auch gegessen.
     Auf einem breiten Tisch steht schon das Geschirr bereit, von den Querbalken hängen ganze Schinken herab. In der Nähe des Feuers
     stehen an privilegiertem Platz zwei mit Lammfellen bedeckte |22| Bänke. Sie sind besser gepolstert als die übrigen und dienen den älteren Frauen des Haushalts als Schlafstätte. Auf einem
     dunklen Möbel harrt ein von Opfergaben umgebener Buddha der Gebete. Der Raum ist Küche, Esszimmer, Schlafsaal und Altar zugleich,
     ein Versammlungsort, an dem sich der größte Teil des Alltags abspielt und wo Besucher mit einer Tasse Buttertee empfangen
     werden.
    Ich gehe wieder hinaus und über den Hof in den gegenüberliegenden Flügel, wo sich die Wohnräume der erwachsenen Frauen der
     Familie befinden und wo das Liebesleben der Mosuo stattfindet. Während die Männer in den Gemeinschaftsräumen bei ihren Müttern
     leben, hat jede Frau nach der Initiationszeremonie, die den Eintritt in das Erwachsenenalter markiert, Anrecht auf ein eigenes
     Zimmer, in das sie sich zurückziehen kann, in dem sie ihre persönlichen Habseligkeiten aufbewahrt und ihre Liebhaber empfängt.
     Es kommt nur der hinein, dem sie gewillt ist, Einlass zu gewähren. An der Zimmertür ist ein Haken aus Holz angebracht. Dort
     hängt die Mütze des Begleiters, den sie für die jeweilige Nacht ausgewählt hat. Sie ist das untrügliche Zeichen für jeden,
     der sein Glück versuchen will, dass die Frau beschäftigt ist und nicht gestört werden möchte.
    |23| Eine Besuchsehe hat wenig mit dem zu tun, was man in westlichen Kulturkreisen gemeinhin unter Ehe versteht. Jeder lebt in
     seinem Haushalt, unter dem Dach der Matriarchin seines Clans. Nur in der Nacht und unter Einhaltung größter Diskretion besucht
     ein Mann die Frau, mit der er eine Verabredung getroffen hat, in ihrem Zimmer; die Verwandten sollen davon nichts mitbekommen.
     Über das Sexualleben einer Frau wird nicht gesprochen, Anspielungen darauf, zumal aus dem Mund männlicher Familienmitglieder,
     sind verpönt.
    Vor dem Zubettgehen drehe ich eine letzte Runde zum Ufer des Sees. Dort treffe ich auf eine Gruppe von Freunden, die sich
     nach dem Abendessen bis Mitternacht hier versammeln. Danach machen sie sich auf den Weg zu ihren Geliebten, wo sie mit einem
     leisen Klopfen an die Tür darum bitten, empfangen zu werden. Immer ist die Frau diejenige, die empfängt, der Mann muss zu
     ihr kommen, sie in ihrem Gemach aufsuchen. Das Gegenteil ist tabu.
    Die Besuchsehe beinhaltet keinerlei verpflichtende Bindung. Man verbringt eine Nacht zusammen, und nicht zwangsläufig pflegt
     man darüber hinaus den Kontakt. Wenn ein Treffen nicht zuvor vereinbart wurde, weiß nur der Mann, zu wem er geht. Die Wartende
     in ihrem Zimmer muss sich |24| überraschen lassen, wer
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