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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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des Nachts an ihre Tür klopft.
    Sowohl Männer aus anderen Dörfern als auch Reisende können mit den Mosuo-Frauen eine Besuchsehe eingehen. Aber selbstverständlich
     entscheiden die Damen, ob sie ihre Tür öffnen oder nicht.
    Wenn ein Besucher von weither kommt, ist die Frau stolz darauf, dass die Kunde von ihrer Schönheit offenbar in die Welt getragen
     wurde. Die Mosuo sind eine Gemeinschaft, die starke, dominante und eigenwillige Frauen hervorbringt, doch attraktiv und verführerisch
     möchte eine Mosuo wie jede andere Frau auch sein.
    Ich mache mich auf den Weg zurück zu meiner Unterkunft und bemerke gerade noch, wie die Matriarchin das Haus durch den Haupteingang
     verlässt. Als sie längst außer Sichtweite ist, hört man immer noch das Klimpern des von ihrer Hüfte baumelnden Schlüsselbundes.
    Von meinem Fenster aus kann ich in eines der Frauengemächer sehen: Ein junges Mädchen sitzt vor einem Spiegel und frisiert
     sich mit einer silbernen Bürste das schwarze Haar. Sie wiederholt ein jahrhundertealtes Ritual: Auf einem der Stühle liegt
     ein Kopfputz, das Mädchen nimmt ihn und richtet die drei ihn schmückenden Perlenreihen. |25| Dann neigt sie den Kopf, um ihn aufzusetzen. Das schwarze Kunsthaar lässt ihr eigenes noch dichter erscheinen. Sie beginnt
     einen Zopf zu flechten und schaut dabei verträumt aus dem Fenster, das zum See hinausgeht.

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    |26| 4
    In den ersten Tagen erkunde ich das Dorf. Die Hauptstraße ist nicht asphaltiert und führt am Ufer des Sees entlang. Zwei,
     drei Häuserreihen – die Gebäude sind aus Holz oder Stein errichtet – säumen sie, dahinter liegt das Ackerland. Noch weiter
     hinten die Berge. Im Zentrum, mit Blick auf den riesigen Lugu, befinden sich ein Studio für chinesische Medizin und eine Handvoll
     Geschäfte, am Dorfausgang trifft man auf eine Anlegestelle, wo mehrere Bootsführer ihrer Kundschaft harren. Die umliegenden
     Ortschaften sind ebenfalls von Mosuo bewohnt, auch auf der anderen Seite des Sees haben sie sich da und dort angesiedelt.
    Während ich die Hauptstraße entlangspaziere, kommen mir Pferde, Ziegen und Hühner entgegen, das Vieh büchst hier, wie ich
     inzwischen weiß, gern mal aus. Eigentlich bin ich auf der Suche nach einem Laden, in dem ich Mineralwasser, Batterien und
     Kerzen kaufen kann, doch ich lasse mich gern durch das Treiben auf der Straße zerstreuen. Ich |27| versuche mir die Gesichter zu merken, die mir neugierig entgegenblicken, mir die jungen Mädchen einzuprägen, die lachen, wenn
     ich sie grüße, ich versuche herauszufinden, wer aufgeschlossen genug für ein Interview sein könnte. Ich habe ständig und überall
     das Gefühl, lächerlich zu wirken, aber ich muss mich zeigen. Wenn ich unbemerkt bleibe, sind meine Chancen, Kontakte zu knüpfen,
     gleich null. Andererseits habe ich es als Nicht-Asiate natürlich nicht allzu schwer aufzufallen: Die Nachricht von dem seltsamen
     Fremden an den Ufern des Lugu verbreitet sich im Nu.
    So lernte ich gleich am ersten Tag, als Dorje seiner Vorliebe für ausgedehnte Mittagsschläfchen frönte und Lei gerade sein
     Zimmer einrichtete, Sanshie kennen, sie wohnt im Haus nebenan. Als sie mich aus der Tür treten sah, machte sie mir ein Zeichen,
     ich solle zu ihr herüberkommen – ohne Lei würden wir uns kaum verständigen können, doch ich folgte ihr trotzdem und trank
     mit ihr meine erste Tasse Buttertee.
    Meine Nachbarin ist zweiundfünfzig und hat ein rundes, freundliches Gesicht. Ich merkte gleich, dass sie ein geselliger Mensch
     war, und ahnte, dass sie zu einer Schlüsselfigur während meines Aufenthaltes bei den Mosuo werden würde. Es verging nicht
     ein Tag in Luoshui, an dem ich sie nicht besucht |28| habe. Ich erinnere mich, dass ich beim ersten Mal gar nicht wusste, wie ich mich verabschieden sollte, also tat ich es auf
     die einzige Art, die mir asiatisch erschien: Ich verneigte mich ein paar Mal, wie es die Japaner tun.
    Nichts in dem Dorf deckt sich mit den westlichen Vorstellungen von einem Matriarchat. Manche denken, es handle sich um eine
     Familien- und Gesellschaftsstruktur mit vertauschten Rollen, so etwas wie ein Patriarchat unter umgekehrten Vorzeichen, wo
     die Männer die Hausarbeit machen und, während sie den Abwasch erledigen, nebenbei das Kind in den Schlaf wiegen. Man stellt
     sich vor, dass in der Gemeinschaft sexuelle Libertinage an der Tagesordnung ist und dass es nachts, nach der Anbetung einer
     Mutter-Göttin und auf Geheiß der
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