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Das Paradies ist weiblich

Titel: Das Paradies ist weiblich
Autoren: Ricardo Coler
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zu haben. Wenn Liebe im Spiel ist, kann es ein Einzelner mit vielen aufnehmen.«
    Üblich im Dorf sind die flüchtigen Beziehungen. Es ist nicht ungewöhnlich, dass eine Frau um die dreißig an die fünfzig Partner
     hatte, und wenn sie attraktiv ist, hatte sie womöglich mit allen Männern ihrer Altersstufe eine Besuchsehe.
    Von meinem Platz aus sehe ich Non Chi, sie sitzt neben dem wahrscheinlich ältesten Mann in der |151| Runde. Ihn muss sie im Kopf gehabt haben, als sie davon sprach, eine ruhige Nacht verbringen zu wollen. Sie redet auf ihn
     ein, ich kann mir ihren Tonfall lebhaft vorstellen. Den alten Mann verschreckt das nicht allzu sehr, er hört ihr zu. Plötzlich
     fasst er ihre Hand, und das tut ihr offensichtlich gut.
    Ein junger Mann kommt auf Nan Tsi Tsuma zu, er streichelt ihre Wange und berührt mit seinem Finger leicht ihren Mund. Nan
     Tsi scheint es zu gefallen.
    »Ist das dein fester Freund?«, frage ich, als der Kerl wieder weg ist.
    Die Übersetzung dauert, Lei muss erklären.
    »Nein, es ist nicht ihr fester Freund«, heißt es kurz und knapp aus Leis Munde. Dafür hat der Dialog zwischen ihm und Nan
     Tsi recht lange gedauert.
    Ich frage Lei, ob ihr die Frage unangenehm war.
    »Nein«, erwidert er, »ich musste ihr nur erst erklären, was wir unter einem festen Freund verstehen.«
    Nan Tsi spielt mit ihrem Ring. Ich frage sie, wer denn dann der junge Mann gewesen sei. Und noch während sie mir antwortet,
     drückt ihr ein anderer Mann einen Kuss auf die Wange. Ein dritter und ein |152| vierter treten an sie heran, umarmen und herzen sie.
    Wie unbekümmert Liebe und Galanterie hier erscheinen! Kein Gerede darüber, was die anderen sagen, Sex bedeutet hier nicht
     mehr und nicht weniger als eben Sex. Niemand nimmt daran Anstoß, für keinen bricht deswegen die Welt zusammen.
    Andererseits kann ich mir nicht vorstellen, dass nicht auch hier einmal das Gefühl die Oberhand gewinnt. Irgendwann spürt
     man doch: Der oder die ist es und kein anderer.
    Es regnet weiter, und das Feuer erlischt allmählich. Doch die Feiernden tanzen unverdrossen weiter, inzwischen haben sich
     zwei Chöre gebildet, die einen Wechselgesang anstimmen.
    Jin Sik verlässt das Fest – ohne Begleitung. Vielleicht hat sie eine Verabredung getroffen, vielleicht ist sie aber auch nicht
     dazu aufgelegt.
    Ich erkundige mich bei Nan Tsi, ob auch Liebesbeziehungen vor der Familie geheim gehalten würden.
    Sie reagiert zunächst sehr zugeknöpft auf diese Frage – wie ich erfahre, hat sie eine solche Beziehung gerade beendet. Schließlich
     jedoch erzählt sie, dass, wenn Gefühle zwischen den Partnern einer Besuchsehe aufkämen und fortbestünden, der |153| Mann nicht länger heimlich an die Tür seiner Geliebten klopfe. Die Beziehung genieße dann einen anderen Status. Allerdings
     erst nach einem offiziellen Antrittsbesuch bei der Matriarchin.
    Nicht immer traut sich der Liebhaber allein in das Reich der Matriarchin, oft genug erscheint er in Begleitung einer Vertrauensperson.
     Für gewöhnlich wird der Kandidat spät abends erwartet, und die Matriarchin sorgt dafür, dass die männlichen Familienmitglieder
     nicht zu Hause sind. Es werden Geschenke gereicht, den Göttern Gaben dargebracht, und es wird ein gemeinsames Mahl ausgerichtet.
    Hat eine Liebesbeziehung dieses Stadium erreicht, darf der Mann früher kommen und später gehen. Nach wie vor gilt das Gebot
     der Diskretion, aber in einem weniger strengen Rahmen. Der Auserwählte darf sogar zu Abend mit der Familie der Frau essen
     – vorausgesetzt natürlich, die männlichen Verwandten sind nicht zugegen. Neben dem rituellen Mahl mit der Matriarchin, das
     übrigens nicht mit einer Verlobung oder gar Eheschließung vergleichbar ist, gibt es einen bestimmten Tag im Jahr, an dem sich
     die Partner einer Liebesbeziehung untereinander beschenken, und dann wissen alle, dass sie eine Beziehung führen.
    Weil es den Mosuo zu keinem Zeitpunkt darum |154| geht, mit dem Partner eine Familie zu gründen, und sie in ihm nicht denjenigen sehen, der sie vor der Einsamkeit bewahrt,
     kann schon ein kleiner Streit die Beziehung in Gefahr bringen. Wieso sollte man unter den gegebenen Umständen Konflikte mit
     dem Partner aushalten müssen?
    Wie die meisten Mosuo ist auch Nan Tsi Tsuma der Meinung, dass Liebe nach Liebe verlangt und keinen Platz für Dritte lässt.
     Untreue führt in einem solchen Fall unweigerlich zum Bruch.
    Es gibt jedoch auch andere, die behaupten, eine
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