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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas
Autoren: Fred Vargas
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wie Kehlweiler die Kleinigkeit in dem Zeitungspapier in alle Richtungen drehte.
    »Vincent?«
    »Ja?«
    »Es hat doch heute morgen nicht geregnet?«
    »Nicht seit zwei Uhr morgens.«
    Vincent hatte mit dem täglichen Wetterbericht für eine Stadtteilzeitung angefangen, und noch immer lauerte er jeden Tag auf die Vorhersage. Er wußte eine Menge über die Ursachen dafür, warum das Wasser vom Himmel fällt oder oben hängenbleibt.
    »Und heute morgen war niemand hier, da bist du dir sicher? Nicht einmal jemand, der seinen Hund zum Pinkeln an den Baum geführt hätte?«
    »Du zwingst mich, zehnmal dieselben Sachen zu sagen. Das einzige Wesen, das sich genähert hat, war Marthe. Hast du nichts an Marthe bemerkt?« fügte Vincent hinzu, während er den Kopf in der Zeitung versenkte und sich dann die Nägel mit der Schere reinigte. »Anscheinend hast du sie gestern gesehen.«
    »Ja, ich war im Café, eine Partie Religionsunterricht spielen.«
    »Hast du sie nach Hause begleitet?«
    »Ja«, antwortete Kehlweiler, der sich wieder hingesetzt hatte und noch immer die Kleinigkeit im Zeitungspapier anstarrte.
    »Und hast du nichts bemerkt?« fragte Vincent leicht aggressiv.
    »Sagen wir mal, sie war nicht gerade in Hochform.«
    »Ist das alles?«
    »Ja.«
    »Ist das alles?« rief Vincent heftig. »Du hältst Vorträge über die globale Bedeutung kleiner häuslicher Morde, du sorgst dich um deine Kröte, du verbringst eine Viertelstunde damit, ein Stück Abfall anzustarren, das auf einem Baumgitter klebt, aber bei Marthe, bei Marthe, die du seit zwanzig Jahren kennst, hast du nichts bemerkt? Bravo, Louis, bravo, hervorragend!«
    Kehlweiler warf ihm einen lebhaften Blick zu. Zu spät, sagte sich Vincent, egal, Scheiße. Kehlweilers grüne Augen unter dunklen Brauen, die wie übertrieben geschminkt wirkten, konnten sich von verträumter Verschwommenheit zu furchtbarer, schneidender Intensität wandeln. Gleichzeitig verzogen sich die Lippen zu einem Strich, und all die gewöhnliche Sanftheit machte sich davon wie eine Wolke auffliegender Spatzen. Kehlweilers Gesicht erinnerte dann an jene majestätischen Profile, die in kalte Medaillen gestochen werden und überhaupt nicht spaßig sind. Vincent schüttelte den Kopf, wie wenn man eine Wespe vertreibt.
    »Erzähl«, sagte Kehlweiler nur.
    »Marthe lebt seit einer Woche auf der Straße. Sie haben alle Dienstmädchenzimmer übernommen, um sie in Luxusapartments umzubauen. Der neue Besitzer hat sie alle rausgeschmissen, alle.«
    »Warum hat sie mir nichts gesagt? Sie werden doch wohl vorher benachrichtigt worden sein, oder? Hör auf, du tust dir noch weh mit der Schere.«
    »Sie haben gekämpft, um ihre Buden zu behalten, und sind rausgeschmissen worden.«
    »Aber warum hat sie mir nichts gesagt?« wiederholte Louis lauter.
    »Weil sie stolz ist, weil sie sich schämt, weil sie Angst vor dir hat!«
    »Armes Dummchen! Und du? Hättest du mir nichts erzählen können? Verdammt noch mal, hör mit deiner Schere auf! Deine Nägel sind sauber, oder?«
    »Ich hab’s erst vorgestern erfahren. Und du warst nicht auffindbar.«
    Kehlweiler starrte auf die Kleinigkeit im Zeitungspapier.
    Vincent sah ihn von der Seite an. Mit seiner geschwungenen Nase und dem gestreckten Kinn war Kehlweiler ein schöner Mann, außer wenn er, so wie jetzt, verärgert war. Verärgerung macht niemanden schöner, aber bei Louis war es noch schlimmer: Mit seinem Dreitagebart, seinen starren, wie geschminkten Augen wirkte er ein wenig furchterregend. Vincent wartete ab.
    »Weißt du, was das ist?« fragte Kehlweiler schließlich und reichte ihm das Zeitungspapier.
    Louis’ Gesicht entspannte sich wieder, unter seine Brauen kam wieder Bewegung und Leben in die Lippen. Vincent sah sich die Kleinigkeit genauer an. Er hatte keine Lust dazu, er hatte Louis angebrüllt, das kam nicht häufig vor.
    »Ich hab nicht die geringste Idee, was diese Scheiße sein soll«, sagte er.
    »Ganz heiß. Mach weiter.«
    »Es ist unförmig, zerfressen … mir egal, Louis. Wirklich, mir egal.«
    »Und weiter?«
    »Wenn ich mich sehr anstrenge, könnte ich mich daran erinnern, was früher auf meinem Teller übrigblieb, wenn meine Großmutter panierte Schweinsfüße für mich machte. Ich hab das Zeug gehaßt, aber sie glaubte, es wäre mein Lieblingsessen. Großmütter können manchmal merkwürdig sein.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Kehlweiler. »Ich hab keine gekannt.«
    Er stopfte Buch und Blätter achtlos in seine Plastiktüte, steckte die
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