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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas
Autoren: Fred Vargas
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wollte schlafen. Natürlich könnte er morgen in aller Frühe wieder da sein. Man hatte ihm gegenüber oft die Schönheit des Morgengrauens gepriesen, aber Kehlweiler schlief gern. Und wenn er schlafen wollte, gab es kaum ein Argument, das dem standhielt.
    Manchmal sogar war die Welt verwüstet, und er wollte trotzdem schlafen. So war das, er leitete daraus weder Ruhm noch Schmach ab, obwohl, manchmal schon, aber er konnte nichts dafür, und das hatte ihm nicht wenig Ärger und sogar Mißerfolge eingebracht. Er zahlte für seinen Anteil am Schlaf. Die Zukunft gehört den Frühaufstehern, hieß es. Was idiotisch ist, denn die Zukunft wird auch von jenen überwacht, die spät zu Bett gehen. Morgen könnte er gegen elf da sein.

2
    So zu töten, das hätten nur die wenigsten verstanden. Aber Vorsicht. Jetzt geht es darum, genau, geschickt, ja brillant vorzugehen. Die Brillanz in der Diskretion zu üben ist das Geheimnis der Dinge. Wie bescheuert die Leute sein können, unglaublich. Georges, ein gutes Beispiel, ich sage Georges, aber es gibt auch andere. Was für ein erbärmlicher Wicht, dieser Typ.
    Das war nur ein Beispiel.
    Vorsicht, nicht öfter lächeln als gewöhnlich, viel üben, Präzision. Die Methode hat bereits zu mustergültigen Ergebnissen geführt, sie muß peinlich genau angewandt werden. Den Kiefer locker hängen lassen, Wangen und Augen träge hängen lassen. Die Brillanz unter der Gleichgültigkeit des Alltäglichen üben, unter einer leicht ermüdeten Normalität. Nicht ganz leicht, wenn man zufrieden ist. An diesem Abend ist es mehr als Zufriedenheit, es ist beinahe – völlig berechtigtes – Frohlocken. Sehr schade, daß man es nicht so richtig genießen kann, die Gelegenheit bietet sich nicht oft. Aber das kommt nicht in Frage, bloß nicht so blöd sein. Wenn ein erbärmlicher Wicht verliebt ist, merkt man es ihm an, und wenn ein Mörder zufrieden ist, dann ist das an seinem ganzen Körper ablesbar. Am nächsten Tag steht die Polizei da, und dann ist Schluß. Um zu töten, muß man was anderes sein als ein erbärmlicher Wicht, darin liegt das Geheimnis der Dinge. Viel üben, Präzision, Strenge, und niemand wird auch nur das geringste bemerken. Das Recht, zu genießen und zu frohlocken, kommt später dran, in einem Jahr, ganz unauffällig.
    Die Gleichgültigkeit pflegen und das Vergnügen verbergen. Auf diese Weise zu töten, unsichtbar und rasch zuzuschlagen, da oben auf den Felsen – wie viele hätten das gekonnt? Die Alte hat nichts kommen sehen. Brillant, was die Schlichtheit angeht. Man sagt, Mörder verspüren den Drang, die anderen wissen zu lassen, daß sie es waren. Sie können nicht umhin, sich zu zeigen, sonst sei ihr Vergnügen verdorben. Noch schlimmer sei es, wenn man einen anderen an ihrer Stelle festnimmt, eine alte Falle, um sie aus dem Bau zu locken. Sie könnten es nicht ertragen, daß man ihnen sozusagen ihren Mord stiehlt. Ach was. So was ist gut für erbärmliche Wichte. Nein, so dumm bin ich nicht. Sollen sie zwanzig andere festnehmen, ich werde nicht mal mit der Wimper zucken. Darin liegt das Geheimnis. Aber man wird niemanden festnehmen, man wird nicht mal an einen Mord denken.
    Dieses Bedürfnis zu lächeln, zu genießen, ganz legitim. Aber genau das nicht, geschickt sein. Ordentlich den Kiefer hängen lassen, friedlich sein. Darin liegt alles.
    Zum Beispiel ans Meer denken. Eine erste Welle, eine zweite Welle, es steigt, es fällt, und so weiter. Sehr entspannend das Meer, sehr regelmäßig. Erheblich besser als Schäfchenzählen, um sich zu entspannen, was primär ein System für die erbärmlichen Wichte ist, die nicht nachdenken. Das erste Schaf geht ja noch. Es springt über sein Hindernis und rennt auf die linke Seite des Kopfes. Und wohin verschwindet dieses erbärmliche Wesen? Es versteckt sich auf der linken Seite des Gehirns, über dem Ohr. Die Sache verschlechtert sich ab dem zweiten Schaf, das natürlich weniger Platz hat als das vorherige, um zu verschwinden. Sehr schnell hat man einen Haufen Schafe links vom Hindernis, den neu hinzugekommenen gelingt es nicht mehr zu springen, am Ende stürzt der ganze Haufen unter lautem Blöken zusammen, es ist ein Greuel, da schneidet man ihnen lieber gleich die Kehle durch. Das Meer ist sehr viel besser. Es steigt, es fällt, unaufhörlich und einfach so. Wie dumm, dieses Meer. Und im Grunde auch irritierend, in seiner immensen Nutzlosigkeit. Vom Mond hingezogen und wieder zurückgezogen, unfähig, seinen Willen geltend
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