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Das Orakel von Port-nicolas

Das Orakel von Port-nicolas

Titel: Das Orakel von Port-nicolas
Autoren: Fred Vargas
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zu machen. Das beste wäre natürlich, an den Mord zu denken. Wenn ich ihn in Gedanken noch einmal durchgehe, muß ich lachen – und lachen ist für alles hervorragend. Nein, nicht so dumm sein, oberstes Gebot: vergessen, nicht an den Mord denken.
    Rechnen wir. Morgen werden sie anfangen, die Alte zu suchen. Bis die Leiche zwischen den Felsen gefunden wird, wo im November niemand vorbeikommt, ist ein weiterer Tag, sicher zwei, gewonnen. Dann wird es nicht mehr möglich sein, den genauen Zeitpunkt des Todes festzustellen. Fügen wir noch Wind, Regen und Flut hinzu, nicht zu vergessen die Möwen, das wäre perfekt. Schon wieder dieses Lächeln. Genau das vermeiden, wie auch vermeiden, daß die Hände sich zu Fäusten ballen und sich wieder öffnen, was immer nach einem Mord passiert. Fünf, sechs Wochen lang dringt einem der Mord aus den Fingern. Außer dem Kiefer auch die Hände hängen lassen, keine Einzelheit unkontrolliert lassen, Strenge. All diese erbärmlichen Wichte, die sich wegen übermäßiger Nervosität erwischen lassen, wegen Ticks, wegen Selbstzufriedenheit, wegen Exhibitionismus oder aus übermäßiger Gleichgültigkeit, einfache Schwächlinge, die nicht mal in der Lage sind, sich zu benehmen. Aber so dumm bin ich nicht. Wenn sie mir die Nachricht überbringen werden, mich dafür interessieren, sogar bewegt sein. Beim Gehen darauf achten, ordentlich die Arme hängen zu lassen, in aller Ruhe weiter meinen Geschäften nachgehen. Rechnen wir. Morgen werden sie die Suche beginnen – Gendarmen und sicherlich Freiwillige. Mich den Freiwilligen anschließen? Nein, so dumm nun wieder nicht. Mörder mischen sich zu häufig unter die Freiwilligen. Jeder weiß, daß selbst die bescheuertsten Gendarmen mißtrauisch sind und eine Liste mit den Namen der Freiwilligen aufstellen.
    Die Brillanz üben. Die Arbeit ganz wie üblich machen, normal lächeln, die Arme hängen lassen und sich erkundigen, mehr nicht. Diese Spannung der Finger korrigieren, es ist jetzt bestimmt nicht der Moment, Krämpfe zu kriegen, natürlich nicht, und es ist nicht meine Art, gewiß nicht. Sehr auf die Lippen und die Hände achten, das ist das Geheimnis der Dinge. Die Hände in die Taschen stecken oder gewandt die Arme verschränken. Nicht öfter als sonst auch.
    Darauf achten, was in der Umgebung geschieht, die anderen beobachten, aber ganz normal, nicht wie jene Mörder, die sich vorstellen, daß die kleinste Einzelheit sie betrifft. Aber auch den Einzelheiten Aufmerksamkeit schenken. Alle Vorsichtsmaßnahmen sind getroffen, aber man muß immer mit den Idioten dieser Erde rechnen. Immer. In Betracht ziehen, daß ein Idiot irgend etwas hätte bemerken können. Voraussehen, darin liegt das Geheimnis. Und wenn jemand auf den Gedanken kommen sollte, die Nase in diese Angelegenheit zu stecken, wird er dran glauben müssen. Je weniger erbärmliche Wichte es auf der Erde gibt, desto besser. Er wird dran glauben müssen, wie die anderen. Schon jetzt daran denken.

3
    Um elf Uhr setzte sich Louis Kehlweiler auf Bank 102. Vincent war da und blätterte in einer Zeitung.
    »Hast du im Augenblick nichts anderes zu tun?« fragte ihn Louis.
    »Ein paar Artikel in der Mache … Wenn da drin was geschieht«, sagte er, ohne das Gesicht in Richtung des Gebäudes gegenüber zu heben, »läßt du mich dann die Reportage schreiben?«
    »Natürlich. Aber du hältst mich auf dem laufenden.«
    »Natürlich.«
    Kehlweiler zog ein Buch und Blätter aus einer Plastiktüte. Der Herbst war nicht warm, und es gelang ihm nicht, auf der vom nächtlichen Regen noch feuchten Bank eine gute Arbeitsposition zu finden.
    »Was übersetzt du?« fragte Vincent.
    »Ein Buch über das Dritte Reich.«
    »In welche Richtung?«
    »Vom Deutschen ins Französische.«
    »Bringt das was ein?«
    »Nicht wenig. Es stört dich doch nicht, wenn ich Bufo auf die Bank setze?«
    »Überhaupt nicht«, erwiderte Vincent.
    »Aber stör sie nicht, sie schläft.«
    »Ich bin nicht so bescheuert, mich mit einer Kröte zu unterhalten.«
    »Das sagt man so, und manchmal kommt man soweit.«
    »Redest du viel mit ihr?«
    »Ständig. Bufo weiß alles, sie ist ein Tresor, ein lebender Skandal. Sag mal, hast du heute morgen irgend jemanden in der Nähe der Bank gesehen?«
    »Redest du mit mir oder mit deiner Kröte?«
    »Meine Kröte war heute morgen noch nicht auf. Also mit dir.«
    »Gut. Ich hab niemanden hier an der Bank gesehen. Na ja, jedenfalls nicht nach halb acht. Außer der alten Marthe, wir haben
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