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Das Opfer

Titel: Das Opfer
Autoren: John Katzenbach
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Liebste, bitte, egal wie schwer du verletzt bist, wir können doch einfach sagen, ich wäre das gewesen. Scott hat gesagt, du hättest einen Messerstich abbekommen. Dann sagen wir eben den Cops, das wäre ich gewesen. Sie werden uns glauben, ich weiß es. Du musst mich nicht verlassen. Wir können uns da rausreden, wir beide zusammen.«
    Hope musste traurig lächeln. Das war ein höchst verlockendes Angebot, dachte sie. Lügen wir uns doch um alle Fragen herum. Vielleicht würde es sogar funktionieren. Aber wahrscheinlich nicht.
Nur so können wir sicher sein
.
    Sie wollte Lebewohl sagen, wollte all die Dinge sagen, die Liebhaber und Gefährten sich einander im Dunkeln zuflüstern, wollte etwas über ihre Mutter und Ashley sagen und über alles, was in dieser Nacht geschehen war, doch sie tat es nicht.Stattdessen drückte sie nur die Austaste an ihrem Handy, und die Leitung war tot.
     
    In ihrem Wagen, der immer noch an der Straße vor Michael O’Connells Wohnhaus stand, gab Sally endlich den Emo tionen nach, die sie zurückgehalten hatte, und sie schluchzte hemmungslos. Sie hatte das Gefühl, als ob sie schrumpfte, schlagartig kleiner, schwächer würde und nur noch ein Schatten von dem Menschen, der sie gewesen war, als der Tag begann. Sie war nicht sicher, ob das, was sie getan hatten, den Preis wert war, den sie alle gezahlt hatten. Sie krümmte sich, trat mit den Füßen und drosch mit den Fäusten aufs Lenkrad ein. Irgendwann hörte sie auf und stöhnte, als hätte ihr jemand in den Magen geboxt. Sie schloss die Augen, wiegte sich vor und zurück und machte sich auf ihrem Sitz ganz klein. In ihrer völligen Agonie bemerkte sie nicht, wie Michael O’Connell laut fluchend unverhohlen seine Wut herausließ, als er, bis zur Weißglut gereizt und voller ätzender Bitterkeit, blind für seine Umgebung nur wenige Meter an ihr vorbei zu seiner Haustür stapfte.

EPILOG
»Wollen Sie also eine Geschichte hören?«
     
     
    Verstehe«, sagte sie, ein wenig misstrauisch. »Sie konnten also mit dem Kommissar reden, der in dem Fall ermittelt hat?«
    »Ja«, erwiderte ich, »es war äußerst aufschlussreich.«
    »Aber Sie kommen ein letztes Mal zu mir, weil Sie trotzdem noch ein paar Fragen haben, stimmt’s?«
    »Ich bin immer noch davon überzeugt, dass ich mit ein paar anderen Leuten sprechen müsste.«
    Sie nickte, antwortete jedoch nicht gleich. Ich sah ihr an, dass sie sorgsam abwog, als versuchte sie, ihre Erinnerungen anhand von Fakten zu überprüfen.
    »Es geht nach wie vor um dieselbe Bitte, nicht wahr? Mit Sally oder Scott zu sprechen?«
    »Ja.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass sie mit Ihnen reden würden. Aber davon mal abgesehen – was erhoffen Sie sich von ihnen?«
    »Ich möchte wissen, wie es für sie gelaufen ist.«
    Diesmal lachte sie trocken. »Gelaufen? Unpassender kann man das, was sie durchgemacht und was sie getan und wie sie die Tage danach überstanden haben, wohl kaum umschreiben.«
    »Na ja, Sie wissen schon, wie ich es meine. Eine Einschätzung.«
    »Und Sie erwarten tatsächlich, sie würden Ihnen die Wahrheitsagen? Meinen Sie nicht, dass sie Sie für vollkommen übergeschnappt halten und ihnen einfach die Tür vor der Nase zuschlagen würden, wenn sie bei Ihnen auf der Matte stünden und sagten: ›Ich hätte da noch ein paar Fragen zu dem Mann, den Sie umgebracht haben?‹ Und selbst wenn die Sie reinlassen und Sie fragen würden: ›Wie ist Ihr Leben verlaufen, seit Sie mit dem Mord durchgekommen sind?‹, was könnte sie denn dazu bewegen, sich die Wahrheit von der Seele zu reden? Sehen Sie nicht selbst, wie absurd das wäre?«
    »Aber Sie kennen die Antworten auf diese Fragen?«
    »Selbstverständlich«, sagte sie betont.
    Es war früh am Abend, am Ende eines Sommernachmittags, dieser Schwebezustand zwischen Tag und Nacht, in dem die Welt verblasst. Sie hatte in ihrem Haus die Fenster geöffnet, um die vereinzelten Geräusche hereinzulassen, die mir inzwischen von vielen Besuchen vertraut waren: Kinderstimmen, das gelegentliche Auto – der milde Abschied eines Tages in dieser friedlichen Vorstadtwelt. Ich ging ans Fenster und atmete die frische Luft.
    »Das hier wird für Sie nie wirklich ein Zuhause sein, oder?«, fragte ich.
    »Nein, natürlich nicht. Es ist tödlich, weil es so normal ist.«
    »Sie sind direkt umgezogen, nicht wahr? Nachdem das alles passiert ist.«
    Sie nickte. »Das sehen Sie richtig.«
    »Wieso?«
    »Ich konnte mich nicht mehr darauf verlassen,
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