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Das Opfer

Titel: Das Opfer
Autoren: John Katzenbach
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durchgekommen‹, sagen Sie? Wirklich?«
    »Sie kommen nicht vor Gericht«, stellte ich klar.
    »Aber glauben Sie nicht, dass wir in uns richterliche Instanzen haben, vor denen Schuld und Unschuld anders abgewogen werden? Kommt überhaupt einer von ihnen – besonders aber Scott und Sally – mit irgendetwas durch?«
    Ich antwortete nicht. Vermutlich hatte sie recht.
    »Meinen Sie nicht, dass Sally allein im Dunkeln liegt und die Nächte durchweint, wenn sie neben sich, da, wo einmal Hope gelegen hatte, Kälte spürt? Und die Last, die Scott jetzt auf seinen Schultern trägt – ahnen Sie, wie wenig er die Ereignisse jener Tage auch nur eine Sekunde vergessen kann? Verfolgt ihn dieser Geruch von verbranntem Fleisch und Tod vielleicht mit jeder Brise, die ihm entgegenschlägt? Kann er all diesen eifrigen jungen Menschen an seinem College ins Auge sehen, während er weiß, was für eine Lüge er mit sich herumschleppt?«
    Sie legte eine Pause ein und fragte: »Soll ich fortfahren?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Denken Sie eingehend darüber nach. Sie werden bis an ihr Lebensende für das, was sie getan haben, bezahlen.«
    »Ich sollte mit ihnen reden«, wiederholte ich.
    Sie gab einen tiefen Seufzer von sich.
    »Nein, wirklich«, beharrte ich. »Ich sollte Scott und Sally befragen. Selbst wenn sie nicht mit mir reden wollen, sollte ich es wenigstens versuchen.«
    »Meinen Sie nicht, Sie sollten sie mit ihren Alpträumen allein lassen?«
    »Sie sollten vor allem befreit sein.«
    »Von einem – ja, mag sein. Aber sind sie das wirklich?«
    Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.
    Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem Drink. »Jetzt sind wir also kurz vor dem Ende, nicht wahr? Ich habe Ihnen eine Geschichte erzählt. Was habe ich am Anfang zu Ihnen gesagt? Eine Geschichte über Mord?«
    »Ja, so haben Sie sich ausgedrückt.«
    Sie lächelte trotz der Tränen.
    »Aber da habe ich mich geirrt, besser gesagt, ich habe Ihnen nicht die Wahrheit gesagt. Nein, ganz und gar nicht. Es ist eine Liebesgeschichte.«
    Ich muss wohl erstaunt geguckt haben, doch sie ignorierte mich und ging zu einem Sideboard, um eine Schublade aufzuziehen.
    »Darauf läuft es hinaus. Eine Liebesgeschichte, von Anfang an. Wäre irgendetwas von alldem passiert, wenn es in Michael O’Connells Kindheit und Jugend einen einzigen Menschen gegeben hätte, der den Jungen liebte, so dass er den Unterschied zwischen wahrer Liebe und Obsession begriffen hätte? Und haben nicht Sally und Scott ihre Tochter so geliebt, dass sie alles – wirklich alles – getan hätten, um sie vor Schaden zu bewahren, egal, welchen Preis sie dafür zahlten? Und Hope, hat sie Ashley nicht auf ganz besondere Weise geliebt, viel mehr, als irgendjemand ahnte? Und sie liebte auch Sally, viel tiefer, als selbst Sally wusste, und sie hat ihnen allen ein Geschenk gemacht – so etwas wie Freiheit, nicht wahr? Geht es nicht bei all dem, was von dem Tag an geschehen ist, als Michael O’Con nell in ihr Leben trat, im Grunde immer nur um Liebe? Zu viel Liebe. Nicht genug Liebe, doch wenn alles gesagt ist: Liebe.«
    Ich antwortete nicht.
    Ich sah, dass sie, während sie sprach, einen Schreibblock aus einer Schublade zog, um ein paar Zeilen zu notieren.
    »Sie haben«, erklärte sie plötzlich, »noch einige Dinge zu erledigen, um das Ganze richtig zu verstehen. Ich hab das Gefühl, dass es tatsächlich noch jemanden gibt, dem Sie Fragen stellen sollten. Letzte wichtige Informationen, die Sie einholen und, nun ja,
weitergeben
sollten. Ich zähle auf Sie.«
    »Was ist das?«, wollte ich wissen, als sie mir den Zettel reichte.
    »Nachdem Sie das Nötige getan haben, seien Sie um diese Zeit an diesem Ort, und Sie werden verstehen.«
    Ich nahm den Zettel, warf einen Blick darauf und steckte ihn in die Tasche.
    »Ich hab ein paar Fotos«, sagte sie. »Ich bewahre sie heute meist in der Schublade auf. Wenn ich sie hervorhole, muss ich immer nur weinen und weinen, und das ist nicht gut, nicht wahr? Trotzdem sollten Sie sich ein, zwei ansehen.«
    Damit drehte sie sich wieder zu dem Sideboard herum, öffnete eine weitere Schublade, schob einige der gerahmten Bildern beiseite und zog schließlich eines heraus. Sie betrachtete das Bild mit feuchten Augen.
    »Hier.« Sie reichte mir das Foto mit brüchiger Stimme. »Das ist so gut wie jedes andere. Es ist nach den Bundesjugendmeisterschaften entstanden, wenige Wochen vor ihrem achtzehnten Geburtstag.«
    Auf dem Bild waren zwei Menschen: ein
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