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Das Opfer

Titel: Das Opfer
Autoren: John Katzenbach
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er hätte sich nur noch wenige Meter von einer starken Meeresströmung befunden, die ihn aufs offene Meer hinausgezogen hätte, und so hatte er nach seiner Rettung bedeutend mehr Angst gehabt als mitten in der prekären Lage.
    Das war eines seiner Abenteuer gewesen. Die anderen beiden hatten länger gedauert. Mit achtzehn, als frischgebackener Studienanfänger, hatte Scott es abgelehnt, sich vom Wehrdienst zurückstellen zu lassen, weil er es nicht mit seiner Moral vereinbaren konnte, dass andere sich einer Gefahr aussetzten, dieer selbst mied. Damals erschien ihm dieses jugendlich hochfliegende Ehrgefühl moralisch geboten, doch als der Musterungsbescheid kam, war alle Romantik verflogen. In kürzester Zeit fand er sich zuerst als Rekrut wieder und wenig später bei einer Versorgungseinheit in Vietnam. Ein halbes Jahr lang diente er bei der Artillerie. Seine Aufgabe bestand darin, Koordinaten über Funk zu empfangen und an den Frontkommandeur weiterzuleiten, der Schusshöhe und -weite darauf abstimmte und unter lautem Zischen die nächsten Salven abfeuern ließ – worauf ein Grollen folgte, das ihm immer viel tiefer in den Ohren hallte als jeder Donner. Später verfolgten ihn Alpträume, in denen er Teil einer Tötungsmaschinerie war, die außerhalb seiner Sicht- und Reichweite ablief und die er zuweilen nicht einmal hören konnte, so dass er mitten in der Nacht erwachte und sich fragte, ob er Dutzende, Hunderte oder auch niemanden umgebracht hatte. Im Zuge eines turnusmäßigen Truppenwechsels kam er nach einem Jahr heim, ohne auch nur einen einzigen Schuss auf jemanden abgegeben zu haben, den er hätte sehen können.
    Nach dem Wehrdienst hatte er um die Politik, die in seinem Land hohe Wellen schlug, einen großen Bogen gemacht und sich mit einer Zielstrebigkeit in sein Studium gestürzt, die ihn selbst überraschte. Nachdem er den Krieg aus eigener Erfahrung kannte, fand er Trost in der Geschichte, in Entscheidungen, die vor langer Zeit gefallen waren, in großen Passionen, die nur noch als Echo widerhallten. Er sprach nicht über seine Zeit beim Militär, und jetzt, im mittleren Alter, als unkündbare Respektsperson, bezweifelte er sehr, ob auch nur ein einziger seiner Kollegen wusste, dass er im Krieg gewesen war, zumal es ihm selbst oft wie ein Traum, vielleicht ein Alptraum vorkam und nicht wie ein tatsächliches, todbringendes Lebensjahr.
    Sein drittes Abenteuer war natürlich Ashley gewesen.
    Scott Freeman nahm den Brief, ging zu Ashleys Bett und setzte sich auf die Kante. Auf dem Bett lagen drei Kissen, und eins davon, das er ihr vor über drei Jahren zum Valentinstag geschenkt hatte, war mit einem Herzen bestickt. Außerdem saßen da noch die beiden Teddybären, die sie Alphonse und Gaston getauft hatte, und eine ausgefranste Steppdecke, die sie zu ihrer Geburt bekommen hatte. Beim Anblick der Decke musste Scott daran denken, wie sie in den Wochen vor Ashleys Geburt Witze darüber gemacht hatten, dass beide Großmütter dem noch ungeborenen Kind Steppdecken schenkten. Die andere befand sich auf einem ähnlichen Bett in einem ähnlichen Zimmer im Haus ihrer Mutter.
    Sein Blick wanderte durch das Zimmer. An einer Wand hingen Fotos von Ashley mit Freunden, außerdem alle möglichen Trophäen, einschließlich Zetteln in der flüssig akkuraten Handschrift von Schülerinnen. Da prangten Poster von Athleten und Poeten, ein gerahmtes Gedicht von William Butler Yeats, das mit den Worten endete:
Ich leide, wenn ich dich küsse, / Da ich wissen muss, / Dass ich Dich vermissen werde, / Wenn du erwachsen bist
. Er hatte es ihr zum fünften Geburtstag geschenkt und oft beim Einschlafen ins Ohr geflüstert. Es gab Fotos von ihren verschiedenen Fußball- und Softball-Teams sowie ein Bild vom Highschool-Abschlussball, das genau in der Blüte ihrer jugendlichen Schönheit entstanden war, Ashley in einem Kleid, das sich eng an jede neu entdeckte Kurve schmiegte, das Haar fiel ihr anmutig auf die nackten, schimmernden Schultern. Scott Freeman wurde bewusst, dass er hier das typische Sammelsurium an Erinnerungen vor Augen hatte, die klassische Dokumentation einer Kindheit, so wie vermutlich in jedem xbeliebigen anderen Jugendzimmer, und doch auf seine Weise einmalig. Eine Archäologie des Erwachsenwerdens.
    Auf einem Foto posierten sie alle drei. Ashley war sechs, als es, vielleicht einen Monat bevor ihre Mutter ihn verließ, entstand. Es stammte vom Strandurlaub der Familie, und es schien ihm, als läge etwas Hilfloses in
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