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Das Opfer

Titel: Das Opfer
Autoren: John Katzenbach
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dem Lächeln, das sie alle drei aufgesetzt hatten. Ashley hatte an diesem Tag zusammen mit ihrer Mutter eine Sandburg gebaut, doch die Flut hatte ihre Mühe zunichte gemacht und ihr ganzes Gebäude unterspült, obwohl sie in wildem Eifer Burggräben angelegt und Sandwälle aufgetürmt hatten.
    Er suchte die Wände, die Schreibtischplatte und die Schubladen ab und konnte absolut nichts Ungewöhnliches entdecken. Das beunruhigte ihn erst recht.
    Scott sah noch einmal auf den Brief.
Keiner könnte dich jemals so lieben wie ich
.
    Er schüttelte den Kopf. Das stimmte nicht, dachte er. Jeder liebte Ashley.
    Was ihm Angst machte, war die Vorstellung, dass jemand von diesem Unsinn überzeugt war. Für einen Moment versuchte er sich noch einmal einzureden, er leide nur an einem dummen, übertriebenen Beschützerinstinkt. Ashley war kein Teenager mehr, nicht einmal mehr eine College-Studentin. Sie hatte sich für ein Aufbaustudium in Kunstgeschichte in Boston eingeschrieben und führte ihr eigenes Leben.
    Der Brief war nicht unterschrieben. Demnach wusste sie, von wem er kam. Anonymität war eine ebenso aussagekräftige Signatur wie ein Name.
    Neben Ashleys Bett stand ein rosa Telefon. Er nahm es und wählte ihre Handynummer.
    Sie meldete sich beim zweiten Klingeln.
    »Hi, Dad, was gibt’s?«
    In ihrer Stimme schwang Jugend, Enthusiasmus und Vertrauen mit. Erleichtert atmete er langsam aus.
    »Gibt’s was Neues?«, fragte er. »Wollte nur mal deine Stimme hören.«
    Momentanes Zögern.
    Das gefiel ihm nicht.
    »Nichts Besonderes eigentlich. Mit dem Studium läuft’s gut. Die Arbeit ist, na ja, wie Arbeit eben ist. Aber das weißt du ja alles. Eigentlich hat sich nichts geändert, seit ich letzte Woche zu Hause war.«
    Er holte tief Luft. »Da habe ich dich kaum zu Gesicht bekommen. Und wir hatten nicht viel Gelegenheit, miteinander zu reden. Ich wollte mich nur vergewissern, dass bei dir alles in Ordnung ist. Kein Ärger mit deinem neuen Boss oder einem der Profs? Hast du schon eine Rückmeldung wegen des Studiengangs, für den du dich beworben hast?«
    Wieder schwieg sie einen Moment. »Nein, eigentlich nicht.«
    Er hüstelte. »Was ist mit Jungs. Männer wohl eher. Irgendwas, das ich wissen sollte?«
    Sie antwortete nicht sofort.
    »Ashley?«
    »Nein«, erwiderte sie hastig. »Eigentlich nicht. Jedenfalls nichts, womit ich nicht selbst klarkommen würde!«
    Er wartete. Doch sie sagte nichts mehr.
    »Gibt es etwas, das du mir erzählen möchtest?«
    »Nein, nicht, dass ich wüsste. Also, Dad, willst du mir nicht verraten, was du mit dem Verhör bezweckst?«
    Die Frage war in einem scherzhaften Ton gestellt, der zu seiner besorgten Stimmung nicht recht passte.
    »Versuche nur, irgendwie auf dem Laufenden zu bleiben. Dein Leben rauscht einfach an mir vorbei«, erklärte er, »und ab und zu muss ich dir einfach hinterherjagen und dich stellen.«
    Sie lachte, auch wenn es nicht wirklich von Herzen kam. »Na ja, deine alte Klapperkiste ist ja zumindest schnell genug.«
    »Irgendetwas, worüber wir reden sollten?«, wiederholte er und sah im selben Moment missmutig zu Boden, da ihr das überflüssige Nachhaken natürlich nicht entgehen konnte.
    Sie antwortete prompt: »Noch einmal, nein. Wieso fragst du? Hast du irgendwas?«
    »Nein, nein, alles in Ordnung.«
    »Und Mom? Und Hope? Geht’s ihnen gut?«
    Er hielt die Luft an. Die Selbstverständlichkeit, mit der sie die Lebensgefährtin ihrer Mutter beim Namen nannte, brachte ihn aus dem Konzept, auch wenn er sich nach so vielen Jahren allmählich daran gewöhnt haben sollte.
    »Alles bestens. Bei beiden, nehme ich an.«
    »Wieso rufst du dann an? Macht dir sonst etwas zu schaffen?« Er betrachtete den Brief.
    »Nein, nichts. Nichts Besonderes. Wollte nur mal hören. Für alle Fälle. So ist das nun mal bei Vätern: Uns macht ständig was zu schaffen, wir machen uns grundsätzlich Sorgen, wir malen uns immer das Schlimmste aus. Wir sehen an allen Ecken und Enden Gefahren lauern. Deshalb sind wir die langweiligsten, absolut farblosesten Menschen auf der Welt.«
    Er hörte sie lachen und fühlte sich gleich etwas besser.
    »Hör mal, ich muss ins Museum. Ich melde mich bald wieder, okay?«
    »Sicher. Ich liebe dich.«
    »Ich dich auch, Dad. Bis dann.«
    Er legte auf, und ihm kam der Gedanke, dass manchmal das, was man nicht hört, wichtiger ist als das, was gesagt wird. Und eben hatte er zwischen den Zeilen nur Probleme herausgehört.
     
    Hope Frazier beobachtete die Rechtsaußen
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