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Das Opfer

Titel: Das Opfer
Autoren: John Katzenbach
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Vicki langsam vom Spielfeld. Das Mädchen war noch ein bisschen wacklig auf den Beinen, doch sie brachte immerhin heraus: »Mein Dad sieht schnell rot.« Die Worte kamen in einem ebenso schlichten wie verletzten Ton, und Hope begriff in dieser Sekunde, dass es um weit mehr als einen Zusammenstoß auf dem Spielfeld ging.
    »Vielleicht solltest du diese Woche nach dem Training zu mir kommen und mit mir darüber reden. Oder komm in einer Freistunde zu mir ins Sprechzimmer.«
    Vicky schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Coach. Geht nicht. Das lässt er nicht zu.«
    Schluss, aus.
    Hope drückte dem Mädchen den Arm. »Dann bei anderer Gelegenheit.«
    Sie hoffte, dass sich eine ergeben würde. Es ging nicht fair zu, musste sie denken, als sie Vicki auf die Bank setzte und eine neue Spielerin einwechselte, es gab keine gleichen Chancen füralle. Sie blickte auf die andere Seite des Spielfelds, wo Vickis Vater ein Stück von den anderen Eltern entfernt mit verschränkten Armen und funkelnden Augen stand, als zählte er die Sekunden, in denen Vicki nicht mitspielen konnte. Hope wurde plötzlich klar, dass sie stärker, schneller und wahrscheinlich gebildeter war als der Vater und ganz gewiss mehr von Fußball verstand. Sie hatte jede Trainerlizenz erworben, an jedem Weiterbildungsseminar teilgenommen, und hätte sie in dem Moment einen Ball vor den Füßen gehabt, dann wäre es ihr gewiss nicht schwergefallen, den cholerischen Vater zu beschämen und ihn mit ein bisschen trickreicher Beinarbeit und schnellen Tempowechseln aus dem Konzept zu bringen. Aber selbst wenn sie nicht nur ihr eigenes Können ins Spiel gebracht hätte, sondern auch die Meisterschaftstrophäen sowie ihr NCAA-Zertifikat, das für die gesamten Staaten galt, hätte das alles nichts an der ganzen Sache geändert. Hope überkam eine Woge der Frustration, die sie wie so oft unterdrückte. Während ihr diese Dinge durch den Kopf gingen, löste sich eine ihrer Spielerinnen an der rechten Flanke, preschte nach vorn und donnerte den Ball schnell und geschickt an der Torhüterin vorbei. Gewinnen, dachte Hope, als die Mädchen ihrer Mannschaft lachend und jubelnd von den Bänken sprangen und sich gegenseitig in die Hände klatschten, Gewinnen war vielleicht das Einzige, was ihr Sicherheit gab.
     
    Sally Freeman-Richards wartete im Dämmerlicht des späten Oktobernachmittags in ihrem Büro, nachdem ihre Sekretärin wie auch die beiden Partneranwälte ihrer Kanzlei sich verabschiedet und in die abendliche Rushhour gestürzt hatten. Zu bestimmten Jahreszeiten, besonders aber im Herbst, senkte sich die untergehende Sonne aggressiv hinter die weißen Türme der episkopalen Kirche am Rande des College-Campusund flutete gleißend hell durch die Fenster der angrenzenden Büros. Es war eine Zeit in der Schwebe. Dieses Licht hatte etwas Gleichgültiges, Unberechenbares an sich; nicht nur einmal hatte ein Auto einen Studenten, der von späten Seminaren zurückeilte, beim Überqueren der Straße erfasst, weil der Fahrer durch die Windschutzscheibe geblendet wurde. Über die Jahre war Sally schon zwei Mal mit diesem Phänomen in Berührung gekommen, einmal als Verteidigerin des unglückseligen Fahrers, das andere Mal als Klägerin gegen die Versicherung eines Studenten, der sich beide Beine brach.
    Sally beobachtete, wie sich die Sonne im Büroraum ausbreitete und dabei bizarre, undefinierbare Schattenfiguren an die Wände warf. Sie liebte diesen Moment. Schon seltsam, dachte sie, dass ein Licht, das so wohlig warm schien, solche Gefahren bergen konnte. Es hing ganz davon ab, wo man sich gerade befand – zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort. Sie seufzte bei dem Gedanken, dass die Juristerei nicht zuletzt an dieser Frage hing. Angesichts der Stapel brauner Briefumschläge und Anwaltsakten, unter denen sich ihr Schreibtisch bog, verzog sie das Gesicht. Mindestens ein halbes Dutzend, das dort lag, war reine juristische Routinearbeit. Eine Geschäftsschließung. Eine berufliche Abfindung. Ein unbedeutender Prozess über einen Streit zwischen Nachbarn um ein Stück Land. In einer anderen Ecke des Büros bewahrte sie in einem Aktenschrank die kniffligeren Fälle auf, die im Zentrum ihrer Tätigkeit standen. Diese Verfahren betrafen andere lesbische Frauen im ganzen Tal. Dort lagen alle möglichen Schriftsätze, von Adoptionen bis zu Eheauflösungen. Sogar die Verteidigungsschrift zu einem Totschlagsverfahren, bei dem sie den zweiten Vorsitz führte, war dabei. Sie bearbeitete
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