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Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence

Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence

Titel: Das nicht ganz perfekte Leben der Mrs. Lawrence
Autoren: Catherine Robertson
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gewesen; selten hatte sie ihm etwas zweimal sagen müssen. So als hätte er immer gewusst, dass sie beide ein Team waren und Teams an einem Strang zogen. Aber im Lauf der letzten Monate schien er mit jedem Zentimeter, den er alarmierend abrupt in die Höhe schoss, an Bereitschaft zu jedweder Interaktion zu verlieren. Vorige Woche hatte sie die Fotos auf ihrem Bücherregal abgestaubt und sich dabei ertappt, wie sie ein Foto von ihrem Bengel mit den Wuschellocken, den runden, sommersprossigen Wangen und dem breiten, zahnlückigen Grinsen liebevoll anlächelte. Wie süß er als kleiner Junge gewesen war! Doch dann fiel ihr wieder ein, dass das Foto erst ein Jahr zuvor aufgenommen worden war, und spürte einen Anflug von etwas, das sie nicht benennen konnte. Fast kam es ihr vor wie Bedauern. Aber weswegen? Ich bin eine Supermutter, hatte sie sich gesagt. Mein Sohn wächst zu einem prachtvollen jungen Mann heran– trotz seiner Höhlenmenschtendenzen–, und es ist eine schöne und lohnende Aufgabe, ihm dabei zuzusehen.
    Aishe dachte an ihren Bruder Anselo, der ihr altersmäßig– und gefühlsmäßig– am nächsten stand, obwohl Anse es immer ein bisschen zu sehr mit Pflicht und Anstand gehabt hatte. Anselo war der dritte Herne-Sohn gewesen, ein magerer, kleiner Junge, wesentlich schmaler als seine beiden älteren Brüder.
    Still und vorsichtig war er gewesen, hatte schweigend und aufmerksam beobachtet, wenn sich seine strammen Prachtbrüder in Abenteuer stürzten und brüllend zurückkamen– aus Triumph oder vor Schmerz, wobei Letzteres häufiger vorkam. Als Aishe ihn vor über sieben Jahren das letzte Mal gesehen hatte, war sie erstaunt gewesen, wie gut er sich gemacht hatte. Er war einen Meter achtzig groß, breitschultrig und muskulös gewesen. » Wow, Brüderchen«, hatte sie gesagt. » Warst du im Fitnessstudio?« Da war er rot geworden und hatte die Bemerkung mit seinem üblichen Stirnrunzeln abgetan. Und dann hatte er gesagt, was er sagen musste, und das Gespräch war rasend schnell den Bach runtergegangen.
    Ihre beiden ältesten Brüder waren beide verheiratet und hatten jeder eine Horde Kinder sowie zwei entsprechende dickliche englische Rosen, die von ihnen erwarteten, Geld ranzuschaffen und bei Dinnerpartys ihre Herkunft zu verleugnen. Frauen dieser Sorte fanden es weniger kompromittierend, arabisches Blut in den Adern zu haben, als ein Roma zu sein. Die dämlichen fetten Kühe.
    Aber Anselo war nicht verheiratet. Zumindest soweit Aishe wusste.
    Jetzt trommelte jemand munter an die Tür. Aishe schwoll der Kamm. Selbst sein Klopfen war nervtötend selbstgefällig.
    » Gulliver!«, brüllte sie noch einmal. » Komm auf der Stelle runter und verabschiede dich von deinen T-Shirts!«
    Da Aishes Haus sehr klein war, befand sich die Haustür nur einen halben Meter von der Treppe entfernt. Sie riss sie auf und starrte finster hinaus.
    » Hallo«, sagte ihr Besucher mild und trat ein. » Du könntest immer noch Drähte an seine Hoden binden. Obwohl du ihn für mindestens drei Jahre kaum nackt zu Gesicht bekommen wirst.«
    Aishe schloss die Tür mit mehr Nachdruck hinter ihm als nötig.
    » Hoffen wir nur, dass du mehr vom Unterrichten verstehst als von Kindererziehung«, erwiderte sie.
    Benedict blickte vielsagend zum oberen Treppenabsatz, wo Gulliver immer noch nicht aufgetaucht war. » Soll ich ihn für dich holen?«
    Aishe setzte ihren Fuß auf die unterste Stufe und umklammerte den Treppenpfosten. » Gull…!«
    » Bin ja schon da!«
    Gulliver erschien am Treppenabsatz. Aishe fiel auf, dass ihm seine lockigen Haare mittlerweile bis auf die Schultern reichten. Sie waren nicht wie ihre schokoladenbraun und auch nicht blond wie die seines Vaters. Ihr Farbton war ein dunkles Kupferrot, das immer wieder in ihrer weit verzweigten Familie vorkam. Sie waren hellhäutige Zigeuner, obwohl man sie nur im Vergleich zu ihren Verwandten mit den pechschwarzen Haaren und der olivfarbenen Haut als hell bezeichnen konnte. Aishes Onkel Jenico, das Oberhaupt der gesamten Familie, war ebenfalls hellhäutig. Er war ein Bär von Mann, mindestens zehn Zentimeter größer und um einiges breiter als selbst der neuerdings muskulöse Anselo. Gulliver war innerhalb eines halben Jahres fünfzehn Zentimeter gewachsen und maß mittlerweile knapp einen Meter siebzig. Aishe betete nur, dass er nicht so groß wurde wie Onkel Jenico. Das Haus bot jetzt schon kaum Platz genug für sie zwei.
    Dennoch hoffte sie, ihr Sohn würde mehr Fleisch auf die
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