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Das Nazaret-Projekt

Das Nazaret-Projekt

Titel: Das Nazaret-Projekt
Autoren: Heinrich Hanf
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Herr und Erlöser wünscht ausdrücklich, auf dem kürzesten und schnellstem Weg dorthin gebracht zu werden!«
    »Aye, aye, Sir, ganz wie Sie wünschen! Ähm … gestatten Sie mir noch eine Frage, Sir?«
    Fragen hatte Brock seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr gern und er blinzelte seinen Skipper missmutig an. »Eine Frage? Na gut, meinetwegen!«
    Der Skipper räusperte sich leicht verlegen. »Also, Sir, ich hätte gern gewusst, warum es der neugeborene Jesus so eilig hat, nach Jerusalem zu kommen? Er ist doch noch ein kleines Kind, soweit ich weiß, und diese Stadt läuft ihm doch nicht davon! Ich verstehe das nicht.«
    Nathan schien diese an sich belanglose Frage zunächst gehörig zu verwirren. Dann machte er ein ärgerliches Gesicht und schnauzte den verdutzten Skipper ziemlich barsch an: »Haben Sie denn keine anderen Sorgen? Von dieser Sache verstehen Sie absolut nichts, genauso wenig wie ich etwas von der christlichen Seefahrt verstehe! Es ist besser, Sie sparen sich solche Fragen! Eines aber lassen Sie sich gesagt sein, mein lieber Kapitän: Der Herr und König der Welt hat sein Zepter schon ergriffen, als er noch im Schoß der heiligen Jungfrau weilte! Er mag wohl äußerlich noch ein kleines Kind sein, aber sein Geist und Wille waren schon von Anfang an erwachsen und absolut vollkommen. Genügt Ihnen diese Antwort? Und jetzt, mein lieber Bruder im Herrn, gehen Sie zurück auf ihre Brücke und machen dem Maschinisten klar, dass er das Letzte aus den Motoren herausholen soll, wenn ihm sein Job etwas bedeutet. Haben sie mich verstanden?«
    »Aye, aye, Sir, zu Befehl!«
    Der verdatterte Skipper legte seine Hand grüßend an den Mützenschirm und ging dann mit hölzernen Schritten zurück auf die Kommandobrücke, um den neuen Kurs anzulegen.

    *

    Telly Suntide starrte zu dieser Zeit ebenfalls gedankenverloren zum Horizont einer sonnigen, weiten Schneelandschaft, die in rasender Geschwindigkeit vor dem Fenster des Zugabteils vorbeizog. Hieronymus Meyrink saß ihm gegenüber und blätterte mit oberflächlichem Interesse in einem Magazin, während der hochmoderne Europa-Express mit heulenden Triebköpfen die neu verlegte Trasse entlangfegte, deren gleißende Schienenstränge sich beinahe schnurgerade durch eine grenzenlose Ebene hinzogen.
    Meyrink hatte ihm wohl erklärt, dass die Bahnlinie hier polnisches Staatsgebiet durchquerte, aber wie die meisten Amerikaner, die nur selten richtig über ihren kontinentalen Tellerrand hinausblickten, hatte Telly nur eine äußerst vage Vorstellung davon, wie die Länder Osteuropas auf dem Globus verteilt sind. Immerhin war ihm Polen im Rahmen geschichtlicher und politischer Zusammenhänge beinahe ein Begriff; von Ländern wie Estland und Lettland wusste er allerdings nicht mehr als die Tatsache, dass diese existierten. Vor noch gar nicht langer Zeit sogar hatte er mit diesen Namen vor allem Länder verbunden, die seiner Vorstellung nach unter ewigem Eis begraben lagen und ausschließlich von Menschen bevölkert wurden, die wie eine Mischung aus Wikingern und Eskimos aussahen, Aquavit oder Wodka soffen und das ganze Jahr über russische Bärenfellmützen, Fäustlinge und Schneeschuhe trugen.
    Als der Zug vorübergehend seine Geschwindigkeit herabsetzte und durch eine Stadt namens Poznan fuhr, erklärte Hieronymus, dass man in einer guten Stunde bereits die Grenze zu Deutschland passieren und in einer weiteren knappen halben Stunde in Berlin ankommen würde.
    Telly fühlte sich eigentümlich berührt von der Vorstellung, bald wieder amerikanischen Boden zu betreten und in das schnelle, oberflächliche und extrovertierte Leben von Los Angeles zurückzukehren. Einerseits war er zwar froh, endlich wohlbehalten wieder nach Hause zu kommen, andererseits war ihm im Laufe der letzten Wochen immer klarer geworden, dass er unmöglich seinen gewohnten Lebenswandel wieder aufnehmen könnte.
    Seine Villa, seine gläserne Kathedrale in Santa Monica und seine Privatkapelle – nur ein potemkinsches Dorf! Seine Geheimloge – ein Karnevalsverein, nichts weiter als ein Produkt alberner, spätpubertärer Pfadfinder-Romantik auf den Spuren der Tempelritter und Friedrich Nietzsches! Der Gedanke an seine lächerliche und anmaßende Selbstdarstellung als Auserwählter und spiritueller Führer erfüllte ihn mit tiefer Scham und Reue, vor allem, wenn er an das entsetzliche Leid und Unglück dachte, das ein einzelnes Mitglied seines Ordens über hunderttausende von Menschen gebracht hatte. Selbst
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