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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen
Autoren: Kathi Appelt
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drang, aus ihrem ganzen Körper. Er stand da am Rande der Welt und hielt sie in der sanftesten Umarmung, bis das Geräusch endlich das Interesse an Signe verlor und weiterzog.
    „Wir warten einfach“, sagte er.
    Sie nickte nur. Sie hatte keinen Ton mehr übrig, gar nichts war mehr geblieben. Und in der Zwischenzeit stieg die Flut immer höher und höher, während der Himmel immer heller und heller und heller wurde.
    1 11 Yemayá.
    Sie gewährt nicht jeden Wunsch. Sie ist alt. Sie ist launisch. Sie hört nicht mehr gut.
    Aber ihr Herz ist nicht so versteinert, wie manche denken. Als die kleinen Holzfiguren eine nach der anderen ihren Weg durch das Wasser zu ihr fanden, fing sie an zu lächeln. Geschenke.
    Sie stellte sie in einer Reihe auf ihrer Kommode tief unten im Meer auf und bewunderte die Kunstfertigkeit, mit der sie gemacht waren. Alle waren sie da, Sedna und Lorelei, die Sirene, der Ningyo, die Rusalka und die Wasserfrau. Über die Rusalka mit ihren zerzausten Haaren musste sie lachen. Sie warf sie hoch über ihren Kopf und fing sie wieder auf.
    Yemayá lacht gerne. Das Gelächter füllt ihren runden Bauch mit Glückseligkeit. Es erweicht ihr Gemüt. Nur ein Wunsch.
    Das Mädchen möchte seine Mutter finden? Dieser Wunsch ist leicht zu erfüllen.
    Yemayá. Sie wird diesen Wunsch gewähren.
    112 Gerade als Signe anfing zu glauben, dass Dogie sie womöglich die ganze Nacht lang festhalten musste, vernahm sie aus der Brandung einen vertrauten Ruf.
    „Komm her! Komm her!“
    Dogie wich zur Seite aus und Captain landete mit einem Rums zu ihren Füßen. „Komm her! Komm her!“, rief er.
    Es war noch nicht ganz hell, aber Signe entdeckte sofort einen merkwürdigen Glanz am Hals des Vogels. Sie streckte die Hand aus, aber der Vogel hopste zur Seite. „Komm her, komm her“, drängte er wieder.
    Signe griff nach ihm, und noch ehe er entwischen konnte, hatte sie ihn gepackt. Sie hielt ihn mit beiden Händen an den Flügeln fest, damit er sich nicht verletzen konnte. Dann schob sie die Möwe unter ihren Arm und betrachtete den Hals des Vogels.
    „Der Glücksbringer!“, rief sie.
    Sie erkannte den Anhänger, den Meggie Marie Mirja geschenkt hatte, kurz bevor sie ihre Tochter verlassen hatte. Meggie Marie hatte erzählt, dass eine Möwe ihr den Glücksbringer in die Hand gelegt hatte. Signe hatte es nicht geglaubt. Aber da war er, fest geknüpft um Captains Hals. Und zwar mit dem pinkfarbenen Band, das sie selbst Mirja – einfach so – geschenkt hatte.
    Und da wusste sie es. Das war eine Botschaft. Mirja hatte den Glücksbringer um Captains Hals gebunden. Es war eine Botschaft von Mirja. Macht schnell , lautete sie. Macht schnell .
    113 Im Schlaf fühlte Mirja, wie das kleine Boot gegen die Sandbank stieß. Sie schlug die Augen auf. Der Himmel war noch immer dunkel, aber das Mondlicht reichte aus, um sehen zu können. Sie setzte sich auf und schaute über den Rand des Bootes hinweg. Sand. Sand!
    Und der Fels! De Vacas Fels!
    Die Flut musste sie wieder zurückgetrieben haben.
    Vor sich konnte sie die Schatten ihres Zuhauses sehen. Zu Hause! Sie hatte es fast geschafft. Plötzlich zog es sie mit allen Sinnen dorthin. Alles an ihr, jeder Knochen, jeder Nerv, jede Zelle verlangte nach ihrem Heim.
    „Signe“, krächzte sie. Ihre Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, aber das war ihr egal. Sie wollte nur noch zu Signe, nur noch nach Hause.
    Sie kletterte aus dem Boot auf die Sandbank. Der Untergrund war härter, als sie erwartet hatte. Er war überhaupt nicht sandig, sondern felsig. Felsenfest.
    Ihre Beine zitterten. Ihr ganzer Körper zitterte. Sie kauerte sich neben das Boot und hielt sich daran fest, um nicht umzufallen. Sie merkte, dass sich die Gezeiten wieder gewandelt hatten und dass die Flut am Strand etwa hundert Meter vor ihr leckte. Nur hundert Meter. Konnte sie das schaffen?
    Ein dünner pinkfarbener Streifen aus Licht schwappte über den Horizont.
    Pink. Genauso wie ihr Band. Sie griff an ihren Hals, um den Glücksbringer zu berühren, und dann erinnerte sie sich, dass sie ihn Captain gegeben hatte. War die Möwe damit zurückgeflogen? Würde Signe die Botschaft verstehen?
    Und dann, wie als Antwort auf ihre Frage, hörte sie ihren Namen. „Mirja! Mirja!“ Aber diesmal kam es nicht vom Meer. Es war auch kein Flüstern. Es war keine Erinnerung. Es war nicht der Ruf einer Meerjungfrau oder eines Spuks.
    Wie ein Stromschlag durchfuhr Mirja ein ungeheures Glücksgefühl von den Fußzehen bis zu den
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