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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen
Autoren: Kathi Appelt
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Mond immer weiter in Richtung Horizont wanderte.
    104 Wie weit kann eine Landratte schwimmen?
    Als BF ins Wasser fiel, versuchte er wieder ins Boot zu kommen, zurück zu Mirja. Mit den Vorderpfoten paddelte er, so gut er konnte, aber gerade, als er das Boot erreichte, wurde er von einer großen Welle gepackt und davongetragen. Er paddelte und paddelte und paddelte, bis sein ganzer Körper wehtat. Die Schwimmweste half ihm, über Wasser zu bleiben, aber sie drückte auch gegen sein Kinn, was ihm das Atmen erschwerte.
    Seine Lunge brannte, als stünde sie in Flammen. Er sah nichts als Wasser. Das Boot war weg, sein Mädchen ebenso. Auch der Mond war verschwunden.
    Aber obwohl jeder Muskel vor Schmerzen aufschrie, schwamm er weiter. Bis er nicht mehr schwimmen konnte. Dann hörte er auf zu schwimmen und ließ sich tragen.
    Vom Wasser.
    Von den Wellen.
    Von zwei starken Armen, die ihn ans Ufer brachten, wo sie ihn sanft niederlegten und wieder in der Dunkelheit verschwanden.
    Hätte jemand zugeschaut, vielleicht ein Shrimpsfischer oder ein Schatzjäger, wäre er vermutlich entsetzt zurückgewichen. „Ungeheuer!“, hätte er ausgerufen. Aber BF sah etwas ganz anderes. BF sah einen alten Schwimmer mit schneeweißen Haaren und Augen von der Farbe des Himmels. Wo seine Beine hätten sein sollen, befand sich ein Fischschwanz. Und aus dem Rücken wuchs eine lange Flosse.
    105 Der Hund war nicht das erste Lebewesen, das Jacques de Mer an diesem Abschnitt der texanischen Küste zurück an Land brachte.
    Das erste war der Leichnam des ertrunkenen kleinen Jungen gewesen, der so still im tiefen Wasser geruht hatte. Er hatte ihn kurz hinter der Sandbank gefunden, die hier aus den Wellen ragte.
    Als er das stille Gesicht des Jungen betrachtete, wusste er, dass jemand ihn vermisste. Und mit dem Vermissen kannte er sich aus. Er wusste, was es hieß, jemanden zu vermissen. Er sah den Schmerz des Vermissens im Antlitz des toten Jungen. Und so hatte er den kleinen Körper sanft in die Arme genommen und ans Ufer getragen.
    Aber das war ein Fehler gewesen. Ein Shrimpsfischer hatte ihn entdeckt und seine Kameraden an Deck gerufen. „Ein Ungeheuer! Ein Ungeheuer hat den Jungen ertränkt!“
    So schnell er konnte, war er weggeschwommen, um den tückischen Netzen und den bösartigen Gewehren zu entgehen. Aber am meisten war er vor dem Wort geflohen. Ungeheuer. Es war das grausamste Wort auf der ganzen Welt.
    Jahrelang war er nicht mehr in diese Gewässer zurückgekehrt. Er hatte nie mehr zurückkehren wollen. Nie mehr.
    Aber dann, heute Nacht, ganz unerwartet, hatte er plötzlich ein Signal bekommen, ein Zeichen, das ihn hierherzog, an diesen einsamen Küstenstreifen von Texas. Er hätte wissen müssen, dass es nicht das Signal war, auf das er all die Jahre gewartet hatte. Dass es nicht dasselbe Signal sein konnte.
    Er hatte seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, um den Hund an Land zu tragen. Was, wenn ihn wieder ein Fischer erblickte? Was dann? Würden sie ihn jagen? Das letzte Mal war er nur mit Mühe und Not entkommen.
    Und der Hund war so erschöpft. Er wusste nicht, ob er überleben würde. Aber er wusste, dass der Hund dem kleinen Mädchen viel bedeutete.
    Und was war mit dem Mädchen?
    Was machte es in dieser Nussschale von einem Boot?
    Ganz allein?
    Mitten in der Nacht?
    Er schwamm zurück zum Boot, beugte sich über die Seite und spähte hinein. Er sah, dass das Mädchen schlief. Dies war ein Kind, das geliebt wurde. Die Liebe lag auf seinem Antlitz. Es war das Antlitz von jemandem, für den gut gesorgt wurde. Ein geliebtes Kind. Der Freund eines geliebten Hundes. Er hatte den Schmerz des Mädchens gesehen, als der Hund aus dem Boot gefallen war.
    Und so schwamm er hinter den Flitzer , so leise und unauffällig er konnte, und schob das Boot auf die ferne Küste zu.
    Er schaute hinauf in den Himmel. Schon bald würde die Sonne aufgehen. Er konnte nicht riskieren, den ganzen Weg zurückzuschwimmen, und so stieß er stattdessen einen leisen Pfiff aus. Umgehend versammelten sich die Rochen um das Boot. Die Wasserengel. Hunderte. Tausende. Echte Rochen und Stachelrochen. Eine ganze Flotte von Rochen.
    „Passt auf sie auf“, sagte er zu ihnen. „Bringt sie zur Sandbank.“ Und er schaute zu, wie die wunderschönen Fische das kleine Boot mit ihren weiten, sanften Schwingen aufs Land zutrieben und es auf De Vacas Fels absetzten.
    Und dann schwamm er fort.
    106 Signes ganzer Körper sirrte vor Angst. Sie war halb wahnsinnig. Wie
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