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Das Meer und das Maedchen

Das Meer und das Maedchen

Titel: Das Meer und das Maedchen
Autoren: Kathi Appelt
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nahm Mirja in die Arme. Die Wellenpferde brachen zusammen. Endlich rang sich ein Schluchzen aus Mirjas Kehle und ihr ganzer Körper schmerzte vor Anstrengung und Angst. Und Signe zitterte. Sie hielt sie fest und zitterte, während die Wellen gegen sie beide schlugen. Signe war wütend. Und mit Signes Wut ließ sich nichts vergleichen, außer vielleicht ein Blitz, der heiß und zischend zur Erde niederfährt. „Mach das nie wieder!“, schrie sie.
    Mirja nickte. Auf und ab wippte ihr Kopf. Dies war das stumme Versprechen, das sie gegeben hatte, als sie drei Jahre alt war. Ein Versprechen, sich nie mehr den Wellen zu überlassen.
    Dann umringte sie Gelächter, seidig und scharf zugleich.
    Meggie Marie schwamm neben sie. „Signe, du bist viel zu ernst“, sagte sie und wirbelte das Wasser mit ihren Armen auf, malte mit ihren Fingern kleine Kringel ins Meer. „Wir haben nur gespielt, nicht wahr, mein kleines Meermädchen?“ Dann machte sie ihre Finger lang, sodass ihnen das Wasser ins Gesicht spritzte. Wieder lachte sie. Signe stemmte sich gegen die Wellen.
    „Was hast du dir dabei gedacht?!“, schrie sie Meggie Marie an. Mirja fühlte die Wut in Signes Armen. Sie waren hart wie Stahl.
    Dann machte Signe einen Schritt auf Meggie Marie zu, deren Antlitz im perlweißen Mondlicht silbern schimmerte. Sie schrie nicht mehr. Stattdessen schaute Signe Meggie Marie ins Gesicht und sagte: „Du musst von hier fort.“
    Meggie Marie lachte nicht mehr. Ein anderer Ausdruck trat in ihre Augen. Ein neuer Ausdruck. Dann schrie sie etwas. Sie schrie etwas von einem Geschenk. „Sie ist ein Geschenk“, klang es in Mirjas Ohren. Die Worte hallten in ihrer Kehle und in ihrer Brust wider. „Ein Geschenk.“ Es klang ringsum, klingelte überall in ihrem Kopf, wurde schwächer und schwächer, bis es nur noch ein Flüstern war. Signe drehte sich um und trug Mirja aus der salzigen See hinaus, schleppte sie ans Ufer, zurück zu dem glimmenden Lagerfeuer. Dort zog sie ihr das nasse T-Shirt und die Badehose aus und wickelte sie in das neue Badetuch mit den roten und blauen Fischen.
    Mirja hatte gelauscht, ob sie das Wort noch einmal hören würde, aber da war nichts außer dem Klang der Wellen, die über den Sand schabten. Wie kam es, dass sie auf einmal so klein waren?
    Sie schaute hinaus auf das dunkle Wasser und entdeckte einen Fischschwanz, der sich glitzernd von dem schimmernden Schaum der Wellen abhob. Dann war er fort. Der Glücksbringer an ihrem Hals war kalt wie Eis. Sie fing wieder an zu weinen. Sie schaute Signe an, und Signe weinte auch. Signe nahm sie samt Handtuch in die Arme und drückte sie fest an sich. Und gemeinsam weinten sie genug Tränen, um damit den ganzen Golf von Mexiko zu füllen. Blaue Tränen.
    Mirja kauerte im Boot und erinnerte sich.
    Jetzt wusste sie es.
    Es gab keine Meermama.
    Es hatte nie eine gegeben.
    Es hatte immer nur Meggie Marie gegeben, die sie fast hätte ertrinken lassen, in einer sternenklaren Nacht, ganz ähnlich wie diese, und die ihr gesagt hatte, sie solle auf den Wellenpferden reiten.
    Ein Kinderspiel!
    Plötzlich wurde Mirja von einer wilden Wut gepackt. Sie riss an dem pinkfarbenen Band mit dem Glücksbringer, bis es nachgab. Dann schleuderte sie die goldene Scheibe zu Boden.

    97 Irgendwo lebt eine Frau, eine große Frau mit schwarzen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden sind. Vielleicht sitzt sie in einem Café in den Bergen, trinkt bitteren Kaffee und isst ein Croissant. Vielleicht fährt sie mit dem Zug durch Indien und schaut sich die Affen an, die neben den Gleisen die Mangostücke aufheben, die sie von den Fahrgästen zugeworfen bekommen. Vielleicht überquert sie gerade die Straße einer großen Stadt, einer Stadt wie New York oder Hongkong oder Sydney.
    Vielleicht denkt sie an die Straße aus Muschelschalen und an das Haus ihrer Großmutter. Sie zahlt jedes Jahr pünktlich die Grundsteuern. Vielleicht wird sie eines Tages dorthin zurückkehren.
    Und vielleicht hält sie bei dem Gedanken kurz inne, schaut auf und sieht den vollen Mond. Vielleicht denkt sie an die kleine Tochter, die sie zurückgelassen hat. Vielleicht.
    Vielleicht schickt sie ein Gebet, dass der Mond diese Tochter behüten möge.
    Und vielleicht legt sie sich die rechte Hand aufs Herz und fühlt es schneller schlagen, wenn sie an diese Tochter denkt. Und vielleicht sieht sie im Antlitz des Mondes auch das Gesicht der jungen Frau, der sie einst eine Aufgabe übertragen hat.
    „Ein Geschenk“, flüstert
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