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Das Meer in Gold und Grau

Das Meer in Gold und Grau

Titel: Das Meer in Gold und Grau
Autoren: Veronika Peters
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wollen. Es war das erste Mal, dass ich meinen Vater weinen sah: Er saß über die Zeitung gebeugt, Tränen liefen seine Wangen hinunter, und ich stand klein und hilflos vor ihm, bis er sich mit dem Ärmel durchs Gesicht wischte und zur Stereoanlage ging. My funny valentine. Jeden Sonntagnachmittag hatte sich das Stück von seinem Arbeitszimmer aus im ganzen Haus breit gemacht, und spätestens mit dreizehn war er mir damit unsäglich auf den Geist gegangen. Einmal hatte ich Musik dagegengeknallt, die Boxen auf den Treppenabsatz gestellt, aufgedreht, The Notwist bis zum Anschlag. Mein Vater war die Treppe heraufgestürzt, schrie etwas; ich deutete mit dem Finger auf meine Ohren, auf die Boxen, zuckte bedauernd mit den Schultern. Er machte drei
große Schritte durch mein Zimmer, drehte am Lautstärkeregler und stöhnte auf: »Was soll das denn?«
    Â»Think for yourself.«
    Â»Wie bitte?«
    Er sah ärgerlich aus.
    Â»Das Lied«, sagte ich, »das heißt so. Think for yourself, ich kann nichts dafür.«
    Das Gesicht meines Vaters entspannte sich, ein breites Grinsen erschien neben seinem erhobenen Zeigefinger. Dann haben wir uns vor Lachen nicht mehr eingekriegt. Zwei Tage später kam er abends gutgelaunt mit einer großen roten Plastiktüte nachhause, zwei Kopfhörer darin. »Mit extra langem Kabel, für jeden einen«, triumphierte er und streckte mir die Hand entgegen, »auf dass Friede sei.«
    Â 
    Papas Wochenend-Jazz kam hier so unerwartet, dass es fast tröstlich war. Ich drückte gegen die Tür mit der Aufschrift KAJÜTE. Ein Schankraum mit Holzstühlen, rot gepolsterten Sitzbänken, Kerzen in alten Messingleuchtern auf rustikalen Tischen. Die Wände inklusive Decke waren mit Holz verkleidet, als befände man sich tatsächlich unter Deck. Bilder hingen rundum, in jeder Größe und Machart: Ölskizzen, Zeichnungen, Stillleben, Urkunden, gerahmte Notizzettel, signierte Fotos. Dazwischen Gegenstände, die nautisch anmuteten: Seile mit Knoten, Navigationsgerät, Muscheln, Strandgut, eine verstaubte Lampe in der Form eines Störtebeckerschiffs, flankiert von Glühbirnen in Kerzengestalt. Das Sammelsurium als Gestaltungsprinzip zeugte nicht gerade von vornehmer Zurückhaltung, war aber abwechslungsreich, was in einer Kneipe ja nicht schadet.
    Draußen erschien die Strandkorbgruppe vor dem Hintergrund eines Streifens Ostsee unter zunehmend verregnetem
Himmel, beides zwei Graustufen dunkler als noch vor zwanzig Minuten. Auf den Fensterbänken lagen vereinzelt Bücher, gebundene Ausgaben, die an den Rücken mit Nummern versehen waren, als handelte es sich hier um den Leseraum einer Bibliothek. Die Theke wurde von zylinderförmigen Glaslampen in Orange beleuchtet, für die man in Hamburg sicher einen Haufen Geld hinlegen müsste. Der brüchige Zustand der Kabel ließ eher auf hängen gebliebene Originale als auf retrodesignte Stücke aus dem »Live & Style« schließen, wie sie im Haus meiner letzten Arbeitgeber hingen.
    Das Ostholsteinische Tagblatt titelte einen Unfall mit Sachschaden beim Eckernförder Drachenfest, die Kieler Nachrichten und die FAZ hatten andere Sorgen.
    Ãœber der Zapfanlage wartete die Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger in Gestalt eines Bootsrumpfs , dessen Geldschlitz für normal gewachsene Mitteleuropäer unerreichbar war, auf Spenden. Eine Glocke baumelte neben Plaketten für BECKS Spitzen-Pilsener von Welt oder Haake-Beck naturtrübe Spezialität vom untersten der Regalbretter, auf dem sich Schnapsflaschen an eine Reihe Einmachgläser mit verschiedenen Früchten und Kräutern in durchsichtiger Flüssigkeit anschlossen. Eine Lage darüber: bunte Packungen mit Erdnüssen, Käsecrackern und Salzstangen.
    Auf diesem Schiff ist der Kälte gut trotzen, dachte ich, Bücher, Bier, Schnaps, ÜLTJE- Tüten en masse und die Heizung voll aufgedreht.
    Es roch nach etwas, das ich nicht identifizieren konnte, obwohl mir die Komponenten vertraut vorkamen: Küchendunst versetzt mit Räucherwerk, Möbelpolitur, Frittierfett, Alkohol, keine Ahnung. Dazu Papamusik. Ich fiel aus der Zeit bei solchen Mixturen, sie kamen von viel zu weit her.

    Â 
    Â»Grüß Gott!«
    Die Stimme passte so gut und die Worte so überhaupt nicht zu den Trompetenklängen, dass ich zunächst Mühe hatte, sie für Wirklichkeit zu halten.
    Das Gesicht
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