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Das Meer in Gold und Grau

Das Meer in Gold und Grau

Titel: Das Meer in Gold und Grau
Autoren: Veronika Peters
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Erst jetzt bemerkte ich, dass auf jedem der Körbe ein Rundholz angebracht
war, antennenartig, mit einer Kordel versehen, die sich daran entlangspannte und durch ein kleines rechteckiges Stück Stoff gezogen war. Ein Wimpel in Blau-Weiß-Rot, mehr war es nicht, aber er ließ sich zweifellos mittels der Schnur hoch-und runterbewegen, »hissen« war also möglich. Nur wollte ich gar nicht, dass jemand kam.
    Die Möwe sperrte ihren Schnabel auf, gab einen schrillen Laut von sich. »Hiss selber die Fahne, Vogelviech!« Sie legte den Kopf schief, dem Alten verblüffend ähnlich, und sah mich an, als würde sie vergeblich auf etwas warten, das sie sich von meiner Anwesenheit versprochen hatte. Ich seufzte, stand auf, schulterte meinen Rucksack, der Vogel erhob sich kreischend und verschwand.
    Bei einem halb verfallenen Jägerzaun am Ende des Grundstücks sah ich ein weiteres Schild, kleiner, aber im gleichen Blau mit weißer Schrift gemalt wie die anderen beiden. Dieses war jedoch angeschraubt:
    PRIVATWEG!
    BETRETEN WIDERRUFLICH AUF EIGENE GEFAHR.
    STEINE SAMMELN VERBOTEN!
    DIE EIGENTÜMERIN.
    Es las sich herrschaftlich-aristokratisch: »Die Eigentümerin«. Ihre Durchlaucht, Gräfin von und zu Kroix, gibt sich die Ehre, die Grenzen ihrer Besitztümer zu markieren: Hände weg von meinen Ländereien, hier gibt es nichts zu holen, die Steine werden täglich nachgezählt! Mir fiel ein, was Markieren im Tierreich bedeutete. Die Methode hier roch wenigstens nicht.
    Der schmale Pfad drückte sich an der Uferböschung entlang, weiter hinten war eine kleine Ansammlung von Häusern zu
erkennen, das Dorf, wie ich vermutete. Ich hob einen Kiesel mit zweifarbigen Einsprengseln auf. Er lag gut in der Hand.
    Nach einigen hundert Metern passierte ich einen weiß-roten Schlagbaum, nahe dem ein Holzhaus, eigentlich mehr eine Hütte stand. Sie schien bewohnt zu sein. In den Fenstern standen Tontöpfe mit Kräutern, auf der Eingangsstufe lag, achtlos hingeworfen, ein Paar schmutzige Lederstiefel mit Schnalle am Schaft, wie man sie auf alten Motorrädern trug. Die Läden waren im gleichen Blauton gestrichen wie die vom Palau. Im Vorgarten lag ein hölzernes Ruderboot zwischen gepflegt aussehenden Gemüsebeeten. Hinter dem Schlagbaum wandelte sich der holprige Strandpfad in einen gepflasterten, säuberlich mit Randsteinen befestigten Weg. Ich wollte bis Halsung laufen, man konnte sich, das Meer zur Linken, nicht verirren, und Zeit hatte ich ja, mehr als mir lieb war.
    Was, wenn ich einfach immer weiterliefe, über Halsung und seine Bushaltestelle hinaus, an Fehmarn vorbei, der Küste entlang, runter bis zur Lübecker Bucht? Anheuern, dachte ich, das wäre keine schlechte Idee. Die Hafengesellschaft würde schon jemanden zum Gemüseputzen brauchen, auf einem Frachter Richtung Helsinki, wo der dicke, gelbe Kümmelschnaps hilft, das Vergessen zu beschleunigen. Mein alter Traum von der Reise als Lebensform würde wahr werden, jetzt oder nie, stellte ich mir vor, ins immerwährende Verschwinden, ohne Erklärung, ohne Abschied, ohne Spur. Wenn schon Palau nicht ging, dann das. Wie lange bräuchte man für rund hundert Kilometer Fußmarsch bis zum Hafen, überlegte ich, vier, fünf Tage? An Bahnhöfen schlafen, mit niemandem sprechen, eine stumme Landstreicherin, auf dem Weg ins finnische Nirgendwo.
    Lächerlich.

    Ein trauriger alter Traum mit neunundzwanzig, wenn das kein Indiz war.
    Mädchen, die mit mir zur Schule gegangen waren, verfügten inzwischen über akademische Abschlüsse, ein bis zwei Kinder, sie bewohnten Doppelhaushälften oder Altbauwohnungen mit Stuck, waren längst keine Mädchen mehr, hatten Träume verwirklicht und einige bereits aufgegeben, aber statt ihnen nachzutrauern buchten sie tröstliche Flüge auf die Malediven, vom Urlaubsgeld, das hatten sie sich verdient, sie malochten und sparten und gingen planvoll mit ihren Finanzen um, wir geben Ihrer Zukunft ein Zuhause. Ihre Kinder waren süß, ihre Männer scharf: auf sie und nicht aufs Kindermädchen.
    Man kann sagen, dass ich an diesem Tag in keiner optimistischen Grundstimmung war. Wie es aussah, würde ich an meinem dreißigsten Geburtstag arbeitslos, alleinstehend und auf Wohnungssuche sein und komplett selbst daran schuld.
    Eine, die in der Abiturzeitung als »Katia, unser Kauz« bezeichnet worden war und in den folgenden zehn
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