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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Rolltafel mit der Schulschrift – die muss sein, hat die Direktorin gesagt; die Fenster, in ihnen die Dächer der Stadt und im rechten, ganz am Rand, ein winziges Stück vom See.
    Bauer sieht sie, lacht, winkt ihr zu und denkt nicht daran, aufzuhören. Es scheint ihm gut zu gehen – immerhin. Jetzt singt er, völlig unvermittelt und laut. Sie versucht zu erkennen, was es ist. On the water versteht sie, sonst nichts. Julia und Sophie singen mit, ebenfalls laut.
    Sie klatscht in die Hände. »Schluss, meine Lieben«, ruft sie, »jetzt bin ich dran!« »Hallo, Stella!«, sagt Bauer, »nimmst du an meinem Unterricht teil?« »Ich bin evangelisch«, antwortet sie, obwohl es nicht stimmt. »Du lügst!«, ruft Bauer. »Darf ich jetzt wieder?«, fragt sie, »bitte.«
    »Nur wenn du mir sagst, wie Gott aussieht.«
    »Ein alter Mann mit weißem Bart.«
    »Richtig. Und was trägt er bei sich?«
    »Ein Buch und einen Blitz.«
    »Falsch! Eine Gitarre natürlich!«
    Sie sieht einen zornigen alten Mann vor sich, der eine Gitarre gegen eine Schultafel schmettert, und wundert sich über sich selbst, da zupft sie Manuel am Ärmel. Er hält ihr ein Zeichenblatt hin. »Wir haben Gott gezeichnet«, sagt er stolz. Angesichts der Graphomotorikschwäche des Buben ist vor allem die Gitarre gut gelöst – ein Kringel mit parallelen Strichen seitlich weg: eins bis sechs. Im Rechnen läuft es bei ihm tadellos.
    Bauer springt vom Tisch, tanzt in Wechselschritten auf sie zu und küsst sie auf die Wange. Die Kinder lachen. »Meine Lieblingslehrerin!«, ruft er. »Ist schon gut«, sagt sie, »packst du jetzt bitte deine Sachen?!«
    »Besitzt Gott deines Erachtens einen Gehstock?« Er umkreist sie und fragt, ob Gott Unterhemden trage oder eine Lesebrille, ob er vegetarisch esse, Pfeife rauche und eher ein Auto- oder ein Motorradtyp sei. »Motorrad«, sagt sie, »und er hat Probleme mit seiner Lendenwirbelsäule.« Er hält inne, und bevor er einhaken kann, sagt sie, dass bei Gottes letzter Gesundenuntersuchung der Prostatabefund nicht ganz in Ordnung gewesen sei, und außerdem sei sein Psychiater total unzufrieden mit der Zuverlässigkeit seiner Medikamenteneinnahme.
    »Du bist eine fiese, feministische Volksschullehrerin«, sagt Bauer und sie fürchtet, dass Manuel, der mit offenem Mund neben ihr steht, im nächsten Augenblick wissen möchte, was denn das sei, feministisch und Prostatabefund.
    Während Bauer seine Schuhe sucht, dirigiert sie die Kinder an ihre Plätze. Einer fehlt. »Was ist mit Felix?«, fragt sie. Bauer blickt sich verwirrt um. »Er ist nach Hause gegangen«, sagt Julia.
    »War ihm nicht gut?«
    »Doch, er hat ganz gesund ausgesehen.«
    Sie sucht den Blick Bauers. »Erklärst du mir das bitte. Felix ist was?! Nach Hause gegangen?!«
    »Was hast du?«, sagt Bauer, »er wohnt zwei Straßen weiter.«
    Meine Klasse, denkt sie, es ist meine Klasse, und mit einem Anflug von Verwunderung registriert sie ihren Besitzanspruch, außerdem, dass die grenzenlose Nachsicht mit ihren Mitmenschen, die die sichere Basis ihres Charakters ist und sie ohne Zweifel für ihren Beruf prädisponiert wie kaum jemand anderen, innerhalb einer einzigen Sekunde völlig zusammenbricht.
    »Sag das bitte noch einmal! Du hast ihn nach Hause gehen lassen?! Allein?«
    »Er tut das öfter. Bis jetzt ist er jedes Mal nach einer Viertelstunde wiedergekommen. Er ist abgemeldet.«
    »Er ist abgemeldet?!« Jetzt brüllt sie tatsächlich. Das entspreche ganz dem Bild, das sie von dieser professionellen Katholiken-Fraktion habe – verlogen, träge und, wenn es drauf ankomme, verantwortungslos bis in die Knochen. »Ein sechsjähriges Kind wird vom Religionsunterricht abgemeldet und der Herr Pater findet nichts dabei, es allein auf die Straße zu schicken. Zwischendurch, einfach so!« Bauer macht einen spitzen Mund, zieht den Kopf ein und nimmt seine Jacke vom Haken. Die Kinder ducken sich ebenfalls. Etwas geht mit mir durch, denkt sie, das passiert selten. Der dicke rothaarige Leonhard tritt auf sie zu. »Ich gehe hinüber und schaue, ob er vielleicht eingeschlafen ist«, sagt er. Sie fasst seine Hand und antwortet nicht. »Wie lange ist er schon weg?«, fragt sie. Bauer blickt auf die Uhr. »Vierzig Minuten«, sagt er.
    »Und dir ist das nicht aufgefallen?«
    »Nein«, sagt er, »wenn ich in einer gewissen Verfassung bin, fällt mir so manches nicht auf. Das weißt du.«
    Ja, das weiß ich, denkt sie. Sie geht nach links hinten zu Felix’ Platz. Als sie sich
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