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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus
Autoren: Paulus Hochgatterer
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Beobachtungsstation. An der Rückseite des dunkelbraunen Holzgebäudes wandte er sich nach links und ging den Abflussbereich des Sees und das erste Stück der Ache entlang in Richtung Osten. Im Schilf waren Blässhühner und Haubentaucher unterwegs. In einem der schmalen Stichkanäle lag ein gelbes Schlauchboot. Ein Mann mit Schirmkappe saß drin, vollführte bizarre Verrenkungen und fotografierte. Horn verspürte den Impuls, sich anzupirschen und den Mann ins Wasser zu kippen, doch in diesem Moment trabten zwei Joggerinnen daher, beide in Rosa, eine mehr in Lachs, die andere mehr in Pink, und die ganze Sache war vorbei. Es gibt noch Hoffnung, dachte Horn – junge Frauen, die durch den Frühling laufen, bringen meine Bösartigkeit zum Verschwinden.
    An den Schilfgürtel schloss sich eine Hochmoorzone an, in der man früher Torf gestochen hatte. Jetzt blühten dort Wollgras, Weideröschen und Schwertlilien. Auf Schildern ersuchte die Further Naturschutzbehörde, Rücksicht auf Ringelnattern und Bodenbrüter zu nehmen und die gekennzeichneten Wege nicht zu verlassen. Einmal möchte ich eine Rohrdommel sehen, dachte Horn, ein Wildschwein in freier Natur und eine Rohrdommel. Bei manchen Lebenszielen wusste man nicht, woher sie kamen.
    Das Krankenhaus lag auf einem felsigen Hügel direkt über dem Fluss. Vor zwei Jahren hatte man im Zuge des Ausbaus eine glasgedeckte Treppe zum Uferweg errichtet, die ohne Zweifel eine Menge Geld gekostet hatte und für kranke Menschen eindeutig zu steil war.
    Vom Absatz in der Mitte der Treppe überblickte man erstmals den See. Die Luft war nach wie vor dunstig, so dass man im Westen die Häuser von Mooshaim kaum ausnehmen konnte. Horn schlüpfte aus seiner Jacke. Es war schwül wie im Sommer. Jakob Fuhrmann, ein untersetzter, glatzköpfiger OP-Gehilfe, kam ihm entgegen. »Irgendjemand brüllt auf Ihrer Station«, sagte er. »Danke«, sagte Horn und ärgerte sich im nächsten Augenblick darüber. Fuhrmann war Betriebsrat und verstand sich als eine Art Anstaltspolizist. Horn blickte sich kurz um. Der Mann stieg bedächtig die Treppe hinunter, Stufe für Stufe. Ich gebe ihm einen Stoß, dachte Horn, mit dem Handballen genau zwischen die Schulterblätter. Er stellte sich vor, wie Fuhrmann die Arme zur Seite riss, wild schwankte und sich sein massiger Körper immer weiter nach vorne neigte, wie er schließlich fiel und am Ende mit einem obszönen Geräusch aufschlug. Nichts ist psychohygienisch so sinnvoll wie eine ordentliche aggressive Phantasie, hatte Aichhorn, sein früherer Supervisor, gesagt. Dann hatte ihn der Krebs gefressen.
    Als er auf den Knopf drückte, um den Lift zu rufen, überlegte Horn immer noch, ob er gleich auf die Station schauen solle oder nicht. Am ehesten war es Schwind gewesen, der gebrüllt hatte, der schizophrene Staplerfahrer, den in seinen schlimmen Phasen vor allem die Gewissheit peinigte, er werde jeden Augenblick zu seiner Hinrichtung geholt; vielleicht auch Fehring, der Junkie, der sich seit mehreren Tagen in einem komplizierten Multisubstanzentzug befand. Beide wurden ab und zu laut, wenn es ihnen schlecht ging. Egal. Die Angehörigenrunde startete sowieso immer mit Verspätung.
    Die Tür zu P2 war verschlossen. Das verhieß nichts Gutes. Horn kramte seinen Schlüssel hervor und lauschte. Gebrüll war vorerst nicht zu hören. Im Gruppenraum saßen einige Leute beim Nachtmahl. Daniel Fehring hatte seinen Teller von sich geschoben und starrte in den tonlos laufenden Fernseher. »Schmeckt es Ihnen nicht?«, fragte Horn. »Ich hab keinen Hunger«, antwortete Fehring. »Essen erleichtert den Entzug, das wissen Sie«, sagte Horn.
    »Junkies essen wenig.« Fehring gähnte.
    »Sind Sie müde? Das ist ein gutes Zeichen.«
    Fehring sah elend aus, grau im Gesicht und eingefallen. Außerdem hatte er Lidödeme, das war neu. Er kam ein- bis zweimal pro Jahr zum körperlichen Drogenentzug, immer wenn seine Freundin drohte, ihn zu verlassen. Danach dauerte es meistens nur ein paar Tage, und er war wieder drauf wie immer.
    Horn ging den Gang entlang zum Stützpunkt. Karin, die Jüngste der Schwestern, eine drahtige Hellblonde, saß am Computer und hämmerte in die Tastatur. Sie wirkte angespannt. »Was ist los?«, fragte er. »Sabrina«, sagte sie.
    »Sabrina? Das Übliche?«
    »Ja, das Übliche. Und sie hat es ins Netz gestellt.«
    »Was heißt, sie hat es ins Netz gestellt?«
    Das Mädchen habe sich mit einer Rasierklinge die Unterarme aufgeschnitten, sich von ihrer
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