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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus
Autoren: Paulus Hochgatterer
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bückt, um in das Fach seines Tisches zu schauen, merkt sie, dass sie Leonhard immer noch an der Hand hält. »Er hat alles dagelassen«, sagt sie. »Seine Trinkflasche hat er mitgenommen«, sagt Leonhard, »er hat eine neue silberne Trinkflasche mit einem schwarzen Drachen drauf.« Sie zieht ein großes Heft mit rotem Schutzumschlag aus dem Fach. Englisch. A hat. A cat. A bat. Eine Fledermaus zu zeichnen, sei schwierig, hat sie den Kindern gesagt, schwieriger als eine Katze. Sie fährt mit der Kuppe ihres Zeigefingers die Worte nach, auch die Zeichnungen. Was für ein schrecklicher Hut, denkt sie – wie ein Maulwurfshügel. Trotzdem beruhigt es sie, in dieses Heft zu schauen. »Er kann nicht zeichnen«, sagt Leonhard, »Kindergartenkinder können es besser.«
    Bauer steht vor der Tafel, schlaksig, bleich, unruhig in den Beinen. LDR, denkt sie, long distance runner – so nennen ihn manche. Die Kollegen behaupten, er laufe jede freie Minute: rund um den See, die Ache entlang, hinauf in die Berge, manchmal mehrere Stunden am Stück. Dabei höre er Musik. Jetzt summt er. »Du hast Nerven«, sagt sie. Er schüttelt langsam den Kopf. »Ich weiß«, sagt sie, »entschuldige.« Sie legt das Heft zurück. Das Fach rechts daneben ist leer. Es hat einem Mädchen gehört, das ein paar Wochen nach Schulbeginn wieder ausgetreten ist. In der ersten Klasse kommt das vor. Susi – eine stille Dünne mit wirrem schwarzem Haar und altmodischem Namen. Felix mochte sie. »Was tun wir jetzt?«, fragt Bauer. Hinter ihm steht ein Satz an der Tafel: Der Hase hat lange Ohren. Sie hat ihn vor gut einer Stunde hingeschrieben. »Du bleibst jedenfalls da und schaust auf die Klasse. Ich gehe rüber und hole Felix. Leonhard wird mich begleiten.«
    Sie laufen den Gang entlang, durchqueren die Pausenhalle und steigen die Stufen zum Haupttor hinab. Sie muss Acht geben, um nicht zu stolpern. Ich habe Angst, denkt sie. Draußen scheint die Sonne. Das ist durch die bogenförmige Oberlichte gut zu sehen. Sie weiß, dass sie draußen auf der Straße für einen Moment geblendet sein wird, und sie spürt schon diesen leichten Geruch nach Flieder. Vielleicht werden sie Friederike begegnen, die am Dienstag immer zwei Stunden später beginnt, vielleicht auch dem handzahmen Perlhuhn des Schrotthändlers, der schräg gegenüber sein Büro hat.
    In dem Augenblick, als sie den Arm in Richtung Schnalle hebt, wird sie nach außen weggezogen. Im weißen Rechteck der Türöffnung steht eine kleine dunkle Figur. Leonhard ist der Erste, der etwas sagt. »Wo warst du so lange?«
     

Zwei
    Der schwarze Cayenne, der seit eineinhalb Kilometern an ihm dranklebt und jetzt zum dritten Mal die Scheinwerfer aufblendet, schert nach links aus, zieht mit einem Aufheulen an ihm vorbei und unmittelbar danach mit unverminderter Geschwindigkeit an dem hellgrün gestrichenen Zeitungskiosk, hinter dem sie immer stehen. Er selbst sieht zwanzig Sekunden später eine Handbreit über einer Radarpistole das ausgesprochen zufriedene Gesicht eines Polizisten und weiß, dass es den anderen zirka dreihundert Euro kosten wird, vielleicht auch mehr, unter Umständen sogar einen Kniefall auf dem Kommissariat: In meinem Beruf geht es ohne Führerschein wirklich nicht, Herr Inspektor, Sie sehen das sicher ein.
    Raffael Horn steuerte den Volvo bergan, erst durch das Kiefernwäldchen, dann die weite freie Fläche entlang, die in diesem Frühling halb ein Rapsfeld war, halb eine Wiese. Er fuhr betont langsam, da der Anhänger in den engen Kurven mächtig schlingerte und bei jeder Unebenheit vom Boden abhob. Währenddessen ließ er die Szene noch ein paarmal ablaufen wie einen kurzen Film: Lissoni steigt aufs Gas, überholt und fährt ins Radar. Schadenfreude war eines der wenigen Dinge, die das Leben erträglich machten, ganz eindeutig. Man musste entweder ein wenig psychopathisch oder gut analysiert sein, um das zugeben zu können und sich gleichzeitig nicht schlecht zu fühlen.
    Lissoni war als Chef der Unfallchirurgie seit sechs Monaten im Amt und hatte von Anfang an demonstriert, dass er nicht die Absicht hatte, Kollegen, die ihre Disziplinen ohne Bohrmaschinen, Knochensägen und Transfusionspumpen ausübten, ernst zu nehmen. Horn war seit fünf Monaten und zwei Wochen sein Feind. Das lag nicht am Porsche. Er denke nicht daran, jemanden aus seiner Abteilung in die Kinderschutzgruppe zu entsenden, hatte Lissoni von oben herab kundgetan – wenn ein Kind unter Misshandlungsverdacht an die
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