Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus
Autoren: Paulus Hochgatterer
Vom Netzwerk:
Zeigefinger unmittelbar hinter dem kleinen, dreieckigen Kopf und zeigt es der Menge. Die Schlange ist blassgrün und hat an den Seiten jeweils zwei Reihen leuchtend gelber Punkte. Der Mann steigt einige Stufen die Treppe hoch, legt den Kopf in den Nacken und beginnt sich die Schlange langsam in sein rechtes Nasenloch zu schieben. Die Leute kreischen auf; manche wenden ihre Gesichter ab. Als schließlich nur noch die Schwanzspitze zu sehen ist, öffnet der Mann den Mund, langt mit dem linken Zeigefinger, vorbei an seinen schwarzbraunen Zahnreihen, nach hinten und zieht die Schlange mit einer schwungvollen Bewegung wieder hervor. Unter dem Gejohle der Menge verbeugt er sich.
    Das Mädchen umfasst mit der einen Hand erneut den Blusenausschnitt der Frau. Zeige-, Mittel- und Ringfinger der anderen Hand schiebt es sich langsam in den Mund, immer weiter. Die Frau schaut über die Dächer der Stadt hinweg in die Ferne und scheint den Wind zu prüfen. Erst als das Mädchen heftig zu würgen beginnt, blickt sie es an. Sie sagt nichts, ergreift die Hand des Mädchens und zieht sie ihm aus dem Mund. Es ist noch Zeit. Es wird Regen geben, doch sie sind beinahe am Ziel.
    Der Mann mit dem großen Kopf winkt die Frau und das Mädchen zu sich. Das Mädchen schließt die Augen, als der Mann es auffordert, in die Korbtonne zu schauen. Die Frau lächelt und sagt etwas, das vielleicht »Hab keine Angst« bedeutet. Der Mann beugt sich zu dem Mädchen hinab und flüstert ihm etwas ins Ohr. Dann greift er in die Seitentasche seiner Jacke und drückt ihm ein kleines rundliches Ding in die Hand. Das Mädchen steckt es sich rasch in den Mund. Die Frau schüttelt den Kopf, tut aber sonst nichts. Ein Bonbon, denkt sie vielleicht.
    Sie gehen, schneller als zuvor, erst eine Platanenzeile entlang, dann auf einem fest ausgetretenen Weg eine flache Anhöhe empor. Die Frau blickt sich mehrmals um. Die Wolkenberge stehen hoch über der Stadt. Im Osten ragen wie riesige Säulenstümpfe die Schlote des Kraftwerks auf. Die Pelikane sind verschwunden. Das Mädchen läuft um die Tamariskenbüsche, die seitlich des Weges wachsen, herum und stößt kleine helle Laute aus. Als vor ihnen ein zinnoberfarbenes Haus mit Bogenfenstern auftaucht, tritt das Mädchen an die Seite der Frau und ergreift ihre Hand.
    Der Diener, der das Tor öffnet, führt die beiden durch eine spärlich möblierte Halle in einen Glasanbau mit breiten Türen zum Garten. Drei Menschen, zwei Männer in Anzügen und eine Frau mit rosafarbener Handtasche, stehen dort und unterhalten sich in einer fremden Sprache. Als sie die Frau und das Mädchen erblicken, verstummen sie. Der eine Mann – er ist klein und dick – geht auf sie zu und legt dem Mädchen die Hand auf den Kopf. Das Mädchen duckt sich. Der andere Mann zieht einen Briefumschlag aus der Innentasche seiner Jacke und reicht ihn der Frau. Sie lässt das Mädchen los, tritt an ein rundes Tischchen mit Mosaikplatte, auf dem eine Vase und ein paar Gläser stehen, und öffnet den Briefumschlag. Sie legt das Geld, das sich drin befindet, vor sich hin, zählt es, indem sie Schein auf Schein neu aufstapelt, steckt es zurück und nimmt den Umschlag an sich. Sie lässt den gelben Stoffsack von der Schulter gleiten, hält mit abgespreizten Armen einen Augenblick lang inne und verlässt, ohne sich noch einmal umzublicken, mit hastigen Schritten den Raum.
    Das Mädchen steht einfach da und schaut. In einer Entfernung von zwei, drei Metern liegt der Stoffsack auf dem Boden. Keiner sagt etwas.
    Draußen läuft die Frau durch den Wind. Vielleicht lacht sie. Vielleicht schreit sie auch. Die ersten Tropfen schlagen schwer in den Staub.
     

Eins
    Sie steht in der Tür, blickt in die Klasse und weiß, dass es wieder einmal schwierig werden wird. Alle paar Wochen ist das so.
    Langsam stellt sie ihre Tasche ab. Es liegt nicht an mir, denkt sie, vor zwei Minuten hat es geläutet, die Kinder sind in Aufruhr und mittendrin sitzt ein kranker Mensch auf dem Tisch und spricht vom Himmel. Es liegt definitiv nicht an mir.
    Sie bemüht sich, ruhig zu bleiben, und lässt ihre Augen über die Wand gleiten, links herum: die Tafel; der Schrank mit dem Bastelmaterial; die blühenden Bäume, einundzwanzig Stück, von jedem Kind einer, manche gezeichnet, manche aus Zeitschriften geschnitten; die große Österreichkarte mit dem roten Hasen, den Lena unten rechts draufgemalt hat; Philipps Fußabdrücke an der Wand, der linke in einer Höhe von eins zwanzig; die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher