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Das Matrazenhaus

Das Matrazenhaus

Titel: Das Matrazenhaus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paulus Hochgatterer
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geholt, ihr das Rollstuhlfahren beigebracht und sie in der Folge weitgehend allein versorgt. Er hatte sich zuerst karenzieren lassen, dann seine Stelle als Bankangestellter aufgegeben und sich als Versicherungsmakler selbständig gemacht. Das verschaffte ihm die Flexibilität, die er für die Betreuung seiner Frau brauchte. Den Sohn, der damals fünf, und die Zwillingstöchter, die zweieinhalb gewesen waren, hatte er unmittelbar nach dem Unfall zur Mutter seiner Frau gegeben. Dort lebten sie immer noch.
    »Niemand stimmt nicht«, sagte Frühwald.
    »Was heißt das?«, fragte Horn, obwohl er die Antwort kannte.
    »Der Balg, hinter dem meine Frau hergelaufen ist, kann sehr wohl etwas dafür.«
    »Nicht schon wieder«, ächzte Frau Kirschner. »Tut mir leid«, sagte Frühwald, »daran wird sich nichts ändern.«
    »Es war doch nur ein Kind!«
    »Na und?«
    Margot Frühwald hatte mit den Kindern ihrer Gruppe auf dem Rasenstreifen hinter dem Kindergarten Wir sind die Tiere des Dschungels gespielt und alles war völlig normal verlaufen, bis mit Moritz Leikamp seine Rolle als Leopard durchgegangen war. Der Fünfjährige hatte Nina Rohrer, die eine Gazelle war, als eindeutig sein Opfer identifiziert und sich mit ausgefahrenen Krallen auf sie gestürzt. Nina war geflohen, Moritz hatte sie verfolgt, und Margot Frühwald war zur Abwendung gröberen Unheils hinter ihm hergelaufen. Dabei hatte sie den Rand des aufblasbaren Planschbeckens übersehen, war hängen geblieben, gestolpert und mit dem Kopf gegen die Kante eines Blumentroges aus Waschbeton geknallt. Sie war danach mehrere Wochen im Koma gelegen und letztlich hatte ihr nur die zeitgerechte Applikation einer Hirndrucksonde das Leben gerettet. »Wo liegt eigentlich das Lähmungsniveau Ihrer Frau?«, fragte der grauhaarige Mann unvermittelt. Frühwald wandte sich ihm jäh zu. »Das was?«, fragte er.
    »Das Niveau. Halswirbelsäule, Brustwirbelsäule, C fünf, C sieben, Th irgendwas. Sie wissen schon.«
    »Es gibt kein Niveau«, sagte Frühwald, »meine Frau hat keine Querschnittslähmung.« Es habe sich bei ihr um ein Epiduralhämatom gehandelt, eine Blutung zwischen Schädelknochen und Gehirn, die dermaßen auf die Großhirnrinde gedrückt habe, dass ein Teil davon zugrunde gegangen sei. »… des Gyrus praecentralis«, sagte der Mann. Woher er das wisse, fragte Frühwald, Derartiges sage man nicht einfach so – wenn er selber Arzt sei, solle er nicht geheimnisvoll herumreden, sondern es zugeben. Nein, er sei kein Arzt, sagte der Mann, aber er interessiere sich notgedrungen für medizinische Sachfragen, vor allem für das Zentralnervensystem. Ich mag ihn nicht, dachte Horn, auch wenn er notgedrungen sagt; ich mag nicht, wie er auf seinem Palm herumtippt, und ich mag nicht, wie er Gyrus praecentralis sagt, medizinische Sachfragen und Zentralnervensystem – mit der Arroganz des Halbgebildeten und mit einem leichten norddeutschen Akzent.
    Was denn das heiße, notgedrungen, ob das mit seiner Teilnahme an der Angehörigengruppe zu tun habe, fragte Frühwald ein wenig verunsichert. Er habe eine geisteskranke Frau und eine schwierige Tochter. Der Mann blickte in die Runde. Alle schwiegen. Warum sagt er geisteskrank, dachte Horn, er möchte Aufmerksamkeit, und ich mag ihn immer noch nicht. Das tue ihm leid, sagte Frühwald schließlich. »Keine Ursache«, sagte der Mann, »Ihre Frau ist gelähmt und meine hat eine paranoide Schizophrenie. So ist die Sache gerecht verteilt.«
    »Wo wird sie behandelt?«, fragte Frühwald.
    »In Graz«, sagte der Mann, »es ist uns jemand empfohlen worden.«
    Sie haben sich gefunden, dachte Horn – die Männer, die an ihren Frauen leiden. Die Gruppe erfüllt ihre Funktion. Graz sei eine schöne Stadt, sagte Elfriede Kirschner, nette Menschen, der Schlossberg mit seiner schönen Aussicht und gute Ärzte. Das mit der schwierigen Tochter sei vermutlich auch kein Wunder, handle es sich bei einer paranoiden Schizophrenie doch garantiert um eine furchtbare Belastung für die ganze Familie, besonders für Kinder.
    Pflegetochter, sagte der Mann, genau genommen sei sie eine Pflegetochter, aus einer Provinz im Südwesten Indiens, was natürlich auch ein gewisses Problem darstelle. Ihre jüngere Schwester habe es zum Beispiel auf Dauer nicht ausgehalten – die Umstellung, die soziale Entwurzelung und die latente Fremdenfeindlichkeit, die es hierzulande immer noch gebe. Sie sei zunehmend verfallen, psychisch und auch körperlich, und als seine

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