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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Autoren: Catherina Rust
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einem stundenlangen Begrüßungszeremoniell, das sich von Dorf zu Dorf wiederholte. Alte wie Junge standen dabei um uns herum, während ich als Neuankömmling in der Gemeinschaft ausgiebig gemustert wurde. Die meisten Indianer begrüßten meine Eltern wie heimgekehrte Verwandte. Und während der allabendlichen Runden am Lagerfeuer stellte sich auch rasch wieder die alte Vertrautheit mit den Mashipurianern ein.
    Meine Eltern hatten vor ihrer letzten Abreise aus dem Urwald eine Art Notfallausrüstung zurückgelassen, die sie tropenfest verpackt im Erdreich vergraben hatten. Neben Arzneimitteln und Verbandsmaterialien enthielten die Kisten Werkzeug, Jagdwaffen und einige Päckchen hochkonzentrierter Nahrungsmittel – zu Deutsch: Astronautennahrung.
    Meine Mutter versuchte, einige Grundzüge des gewohnten europäischen Lebens aufrechtzuerhalten. In diesem Leben aß man nämlich von Tellern mit Messer und Gabel und nicht mit den Händen aus dem Topf. Man saß aufrecht auf einem Stuhl oder einer Bank und nicht mit krummem Rücken auf dem Boden wie die Aparai. Meine Eltern zimmerten sich eine Sitzbank aus rötlichem Hartholz. Und der selbstgebaute Küchentisch wurde anschließend noch mit einem dunkelblauen abwaschbaren Wachstuch versehen, das von den Aparai neugierig und etwas skeptisch beäugt wurde und später auch bei mir Kopfschütteln auslöste. Wann immer ich konnte, entwischte ich aus der Hütte meiner Eltern, um bei meiner Wahlfamilie zu essen. Am liebsten mochte ich das würzige Affenfleisch, das mit den Händen gegessen natürlich am besten schmeckte. Auf dem Boden zu hocken, fand ich außerdem viel bequemer als aufrecht auf einem Stuhl zu sitzen.
    Meine ersten bewussten Erinnerungen setzen ein, als wir unsere provisorische Hütte verlassen und unser eigenes Tapöi am Rand des Dorfes hatten: ein solides Holzhaus, gebaut auf Stelzen, mit einem Palmholzboden und einer geschlossenen Rückwand zum Schutz vor wilden Tieren und den Wassermassen in der Regenzeit, das unter Anleitung des Dorfchefs Kulapalewa gebaut worden war. Schräg gegenüber lag unsere Kochhütte. Davor stand ein Lehmofen, den meine Eltern nach den Zeichnungen europäischer Dorföfen aus dem Mittelalter gebaut hatten. In Mashipurimo war er anfangs eine kleine Sensation. Meine Mutter buk darin ihr Brot, während die Aparai das übliche Wöi, die wagenradgroßen Maniokfladen, auf Brettergestellen oder auf den Dächern ihrer Hütten in der Sonne trockneten; anschließend wurden sie über dem Feuer geröstet.
    Mein Vater errichtete sich noch ein weiteres Domizil: seine Arbeitshütte, spaßeshalber »d as Gartenhaus« und manchmal auch »d as Teehaus« genannt, weil er dort über den Tag verteilt Unmengen Tee trank und diesen auch seinen Besuchern servierte, während er sie über ihre Kultur befragte. Bis zu fünfzehn Besucher passten ins Gartenhaus, in dem zwei große Schreibtische standen. Sessel gab es im Urwald nicht, man befestigte seine Hängematte einfach an den Pfosten der Hütte, wenn man »P latz nehmen« wollte. Die Arbeitshütte lag in sicherer Entfernung zum Zentrum des Dorfes, fernab von Kindergeschrei und dem Tosen der Stromschnelle, die dem Ort seinen Namen gegeben hat. Mashipurimo, das Dorf des Tapirs. Viele Amazonasvölker gaben Stromschnellen oder Wasserfällen vorzugsweise Tiernamen.
    Die Arbeitshütte war auf allen Seiten offen und nur notdürftig durch ein Sprossengitter vor wilden Tieren geschützt. Über acht Stunden am Tag brachte mein Vater im Schnitt mit seinen Aufzeichnungen im Gartenhaus zu, wie ich in seinen Notizbüchern gelesen habe. In seinem »B üro« entstanden Tonbandaufnahmen, auf vielen tausend Seiten dokumentierte er die Sprache und die Kultur der Aparai-Wajana. Die seltenen Male, die ich ihn dort besuchte, hämmerte er auf einer Reiseschreibmaschine herum. Seine Finger flogen nur so über die Tasten, er lächelte mich kurz an, wenn er mich – nur mit den obligatorischen, über dem Bauch gekreuzten Perlensträngen geschmückt und dem traditionellen Lendenschurz bekleidet – erblickte. Wie alle anderen Kinder besaß ich ein schlichtes Wäju aus rot gefärbtem Baumwollstoff für den Alltag und ein kunstvolles aus kleinen bunten Perlen für die höheren Festtage. Mein orange-rot-blau gemusterter Feiertagslendenschurz mit den mythischen Tierfiguren hängt heute in unserem Hausflur. Schön eingerahmt, versteht sich. Manchmal vergaß mein Vater meine Anwesenheit und wunderte sich dann, wenn ich immer noch da war –
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