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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Autoren: Catherina Rust
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einem anderen übergeben. Im Unterschied zu unserem Verständnis hortete man aber nichts für sich. Es war üblich, dass am Ende alles geteilt wurde. Der Jäger mit der reichsten Beute gab seinem glücklosen Jagdgefährten einen guten Teil ab. Wessen Pflanzungen nicht so viel hergaben, der wurde von einem Nachbarn mit reicherer Ernte beschenkt.

    Sandbänke mit Schildkröten- und Leguaneiern (links meine Mutter)
     
    Dass hierzulande in ein und derselben Stadt manche Menschen in einem geradezu verschwenderischen Luxus leben, während es andere oftmals nur mit großer Mühe schaffen, ihren Kindern eine warme Mahlzeit am Tag oder ein neues Paar Schuhe zu bieten, dafür hätten die Aparai kein Verständnis. Wer Hunger hat, darf sich sogar an den Pflanzungen seines Nachbarn bedienen, er muss ihm nur anschließend Bescheid geben. Und wer unverschuldeter Weise in Not gerät, der kann sich der Hilfe und der Unterstützung der Dorfgemeinschaft gewiss sein. Ein Spruch wie »G eiz ist geil« oder »J eder ist sich selbst der Nächste« hätte am Amazonas vermutlich zu Randalen geführt. Weil Eigennutz und blanker Egoismus im Verständnis der Indianer gänzlich verwerfliche Eigenschaften sind.
    Laufe ich heute in Gedanken durch Mashipurimo, höre ich das Dauerzirpen der Zikaden in der Nachmittagshitze, ich rieche die vertraute Mischung aus verbranntem Baumharz und Holzkohle, die von den vielen Kochstellen in Schwaden durchs Dorf zieht. Ein Geruch, den auch die eigene Haut annimmt, je länger man im Urwald lebt. Den man irgendwann nicht mehr wahrnimmt, so wie all die überwältigenden Gerüche, Farben und Eindrücke, die am Amazonas auf den Neuankömmling einwirken. Rauch, Holz, Lehm, überreife Früchte, die zahlreiche Insekten anlocken. Der Geruch von ausgenommenem Fisch, dessen Schuppen wie Perlmutt in der Sonne schimmern. Das rot glänzende Blut von frisch erlegtem Wild, der Duft erdiger Pigmente, die zwischen glatt polierten Steinen fein zerrieben werden. Der bitter-säuerliche Geruch frisch geschälter Maniokknollen, die gerieben und mit Speichel versetzt zu einem alkoholhaltigen, dickflüssigen Brei gären, zu Kashiri Kononto, dem indianischen Maniokbier. Der pudrige Hauch erntereifer Baumwolle, die wie Watte aus ihren aufgeplatzten Kapselhüllen quillt.
    Ich erinnere mich an das Gefühl von Ononto auf meiner Haut. Eine tiefrote Farbpaste, die aus den ölhaltigen Samenkapseln des Annattostrauchs gewonnen wird, hierzulande bekannt unter dem Namen »Orleansstrauch«. Mit dieser bemerkenswerten Farbe, die ganz nebenbei auch noch gegen Sonnenbrand hilft und vor Parasiten und Insektenstichen schützt, bemalen die Aparai ihre Gesichter, die Arme und manchmal auch ihre Rücken. So leuchtend rot und satt glänzend, dass die Bezeichnung »R othaut« tatsächlich einmal zutrifft. Rot – die Farbe der Aparai. Die Lebensfarbe, meine Lieblingsfarbe.
    Die wohlige Zufriedenheit stellt sich wieder ein, die ich empfand, als meine große »P atenschwester« Sylvia meine Wangen behutsam mit Ononto bestrich. Das Sonnenlicht strömte warm durch meine geschlossenen Augenlider. Wenn Sylvia nach einer gefühlten Ewigkeit mit der Festtagsbemalung fertig war, durfte ich endlich mein Spiegelbild im Wasser einer Pfütze betrachten. Ich musste immer lachen, weil ich das Gesicht im Wasser kaum erkannte. »B in ich das wirklich?« Sylvia nickte.
    Die Eindrücke, die damals auf mich einströmten, die Umgebung, die Menschen, deren Sprache ich nicht verstand, waren anfangs sicher überwältigend. Was meine Eltern in den ersten Wochen und Monaten nach unserer Ankunft beschäftigte, bekam ich als nicht mal Anderthalbjährige freilich nicht mit. Ich konnte nicht wissen, wie mühsam es war, ein marodes Blätterdach notdürftig mit Plastikplanen abzudichten, bis ein neues Gebäude errichtet war. Ich wusste nicht, wie anstrengend es für meine Mutter war, unsere gesamte Wäsche im Fluss von Hand zu waschen. Oder wie schweißtreibend, die alten, seit dem letzten Aufenthalt im Urwald inzwischen längst überwucherten Pflanzungen auszuholzen oder durch eine Teilrodung neu anzulegen, damit wir genug Nahrung hatten, wenn unsere mitgebrachten Vorräte aufgebraucht waren. Darunter auch unzählige Paletten mit Babybrei in Gläsern und kanisterweise Speiseöl. Die Maniokstecklinge, Bananenschösslinge und das Saatgut verschiedener Knollenfrüchte bekamen meine Eltern von einigen wohlgesinnten Indianern aus den Nachbardörfern als Willkommensgaben überreicht. Nach
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