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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Autoren: Catherina Rust
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Regelmäßigkeit vor Antonias Kochkessel, in den ich mit Appetit hineinlangte.
    Was meine Mutter verständlicherweise kränkte, schien meinem Vater Freude zu bereiten; er dokumentierte meine »A usreißereien« sogar auf Zelluloid. Wenn ich bemerkte, dass er mich dabei fotografierte, huschte ein verschmitztes Grinsen über sein Gesicht. Ich schloss meine Augen, weil ich davon überzeugt war, dass ich auf diese Weise für ihn unsichtbar wurde. Irgendwann gaben meine Eltern es auf, mir die Genüsse der europäischen Küche vermitteln zu wollen. Ohne großes Tamtam und ohne Ausreden durfte ich bald ganz offiziell bei meinen »V erwandten« mitessen, während meine Eltern endlich ihre Ruhe hatten.
    Zu besonderen Anlässen und größeren Festessen tafelten wir alle drei gemeinsam mit den Aparai. Keine Runde, in der meine Eltern nicht ganz selbstverständlich dabei waren. Nur beim Affenfleisch hielt sich meine Mutter dezent zurück …
    » Wie die Beine eines Tausendfüßlers«
     
    Unser Leben in Mashipurimo verlief in einem ruhigen und immer gleichen Rhythmus: Wir standen mit dem ersten Sonnenstrahl auf und beendeten unseren Tag nicht lange nach Sonnenuntergang. Dazwischen das gemeinsame Mahl im Kreis der Sippe, die Jagd im Urwald, Beeren und Insekten sammeln, Kochen, Baden, Baumwolle pflücken, Boote flicken, Hängematten knüpfen, Perlenschmuck fädeln, Kanu fahren, wieder Baden, wieder Essen. Nach Sonnenuntergang fand man sich in einer gemeinsamen Runde am Lagerfeuer ein und palaverte so lange, bis einem vor Müdigkeit die Augen zufielen.
    Am Amazonas aufzuwachsen hieß für mich, sich in aller Ruhe dem Licht entgegenstrecken zu dürfen. Behütet von den anderen Kindern des Stammes wie vom Blattwerk einer Baumkrone, das vor zu vielen Sonnenstrahlen schützt. Unter den wachsamen Augen der Erwachsenen, umgeben von einem unsichtbaren Sicherheitsnetz, in dem jeder auf jeden aufpasste, ohne dabei die Freiheiten des anderen zu beschneiden. Die eigenen Talente und Fähigkeiten spielerisch zu entdecken, ohne von klein auf in eine bestimmte Form hineingepresst zu werden. Am Amazonas aufzuwachsen, war damit in etwa das Gegenteil dessen, was mich nach unserer Heimkehr nach Deutschland erwartete. Wie oft habe ich Formulierungen gehört wie: »D as muss man« oder »D as macht man so«. Im Urwald musste man gar nichts. Man durfte.
    Natürlich bereiten auch die Aparai ihre Kinder auf ihr Leben als Erwachsene vor. Aber hier gab es keinen Zwang, keine starren Regeln oder Vorgaben, die erfüllt werden mussten. Stattdessen wurden die Kinder spielerisch und eher nebenbei auf ihre Aufgaben eingestimmt. Unser Spielzeug bestand zum Großteil aus Miniaturanfertigungen all jener Gegenstände, die von den Erwachsenen im Alltag benutzt wurden: Paddel, Rückenkiepen, Pfeil und Bogen, Baumwollspindeln und was immer wir uns sonst noch wünschten. Alles erfüllte einen Zweck, es reichte nicht, dass ein Gegenstand einfach nur schön aussah. Ich weiß noch, wie glücklich ich war, als Großvater Araiba mir mein erstes Paddel überreichte.
    Ich hockte neben Antonia und Sylvia vor der Kochhütte und knabberte genüsslich Oloschi, geröstete Cashewkerne. Die Kerne hatten wir zunächst fein säuberlich von ihren süß duftenden birnenförmigen Früchten getrennt und anschließend in einer Schale gesammelt. Erst nachdem Antonia die Schüssel mit den Kernen so lange über dem Feuer geschwenkt hatte, bis sie ganz schwarz waren, durften wir die Nüsse aus ihren verkohlten Hüllen herauspulen. In rohem Zustand sind Cashewkerne hochgiftig. Die mondförmigen Nüsse schmeckten süßlich und ganz anders als die abgepackten, die man bei uns in jedem Supermarkt kaufen kann.
    Während Antonia den Saft aus den übrig gebliebenen Früchten presste, um ihn anschließend in einem Aluminiumkessel über dem offenen Feuer zu kochen, bemerkte ich, dass Araiba sich näherte. Er bewegte sich wie auf rohen Eiern und verbarg offensichtlich etwas hinter seinem Rücken. Er tänzelte vor uns hin und her, und ich verrenkte mir schier den Hals, um hinter sein Geheimnis zu kommen. Antonia und Sylvia lachten plötzlich laut los. Auch über das Gesicht von Inaina, Sylvias großem Bruder, der ein wenig abseits saß, um sein Haar in Ruhe mit Pomade auf Hochglanz zu bringen, huschte ein Lächeln. Nur ich wusste immer noch nicht, worum es ging.
    Endlich spannte mich Araiba nicht länger auf die Folter: Mit einer kleinen Verbeugung überreichte er mir ein brandneues Stechpaddel. Es war
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