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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Autoren: Catherina Rust
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der anderen zu folgen. Halbkreis, eintauchen, kreisförmig nach hinten ziehen und hoch … Nach ein paar kleineren Hakeleien stellte ich erleichtert fest, dass ich mit dem kleinen Stechpaddel genauso gut rudern konnte wie die Großen. Zumindest bildete ich mir das damals ein. Nur musste ich mit meinen kurzen Armen das Paddel ungefähr doppelt so schnell eintauchen, wie die anderen. Nach rund einer halben Stunde war ich vollkommen erschöpft, und meine Schultern brannten.
    »S chau mal, ob du nicht zufällig den Rücken eines schwimmenden Tapirs im Fluss entdeckst. Wir brauchen einen Späher – und kleine Mädchen haben besonders gute Augen …« Antonia und Araiba gaben wirklich Acht, dass ich mich nicht überanstrengte.
    Das Kinderpaddel, mit dem ich so viele Erinnerungen verbinde – an gemeinsame Ausflüge, an tanzende Lichtreflexe auf kräuselnden Wellen, an die Schatten der Piranhas, die in Gruppen unter dem Bootsrumpf hindurchhuschten, an den rhythmischen Klang der ins Wasser eintauchenden Ruder –, lehnt heute in meinem Arbeitszimmer an der Wand. Die feinen, eingravierten Linien zeugen davon, wie viel Mühe sich Araiba beim Schnitzen gegeben hat. Die kleinen Einkerbungen an seiner Spitze allerdings sind ein Andenken an die Felsen unter unserer Anlegestelle in Mashipurimo.
    Glückliche Kinder
     
    Eine Kindheit am Amazonas währt nur kurz, dafür ist sie umso intensiver. Kinder haben keine wirklichen Pflichten, dafür aber die gleichen Rechte wie die Erwachsenen. Im Grunde haben sie sogar mehr Privilegien. Bei den Aparai werden Kinder geradezu vergöttert. Sie sind der unumstrittene Mittelpunkt der indianischen Gesellschaft, entsprechend hoch ist ihre Wertschätzung. Wenn Kinder von Erwachsenen aufgefordert werden, frisches Flusswasser oder Brennholz zu holen, unterbrechen sie ganz selbstverständlich ihr Spiel. Umgekehrt lässt ein Erwachsener alles stehen und liegen, wenn er von einem Kind um einen Gefallen gebeten wird. Die Anliegen der Kleinen werden genauso ernst genommen wie die der Großen. »T am (großer Vater), kannst du mir einen neuen Bogen machen? Meiner hat einen Riss.« – »T ante, kannst du mir einen Baumwollgürtel knüpfen?« Wenn nicht gerade etwas Dringendes ansteht, unterbrechen die Erwachsenen ihre Arbeit, basteln geduldig einen Bogen, fädeln Perlen zu einer neuen Kette auf und und und. Das Wort eines Kindes hat Gewicht. Entsprechend selbstbewusst treten die Kinder der Aparai-Wajana auf; schon ihre Haltung verrät einen gewissen Stolz. Ungebührliches Verhalten oder Faulheit, was die täglichen Aufgaben angeht, wird von den Erwachsenen gerügt, aber niemals bestraft. Den Amazonasvölkern sind körperliche Züchtigungen wie Prügel oder Ohrfeigen fremd. Gewalt gegenüber Kindern gilt den Indianern bezeichnenderweise als Brauch der Weißen. Dahinter steckt keine tiefere Philosophie, es ist eher eine Selbstverständlichkeit, über die niemand weiter nachdenkt, weil sie sich über Jahrtausende bewährt hat. Wenn ein Stamm nicht genug Nachkommen hat, stirbt er aus. Wenn eine Familie ihre Zöglinge nicht gut behandelt, was auch unter Naturvölkern vorkommt, ist ihre Versorgung im Alter nicht gewährleistet, weil ihre Nachkommen fortziehen oder die Familie wechseln. Toipä, so ist das eben.

    Sylvia, meine geduldige Lehrmeisterin
     
    Wer zum ersten Mal in ein Indianerdorf am Amazonas kommt, wird staunen, wenn er eine Zeit lang die Kinder beobachtet. Kein Geschrei, keine weinenden, nörgeligen, unzufriedenen Babys, nirgendwo trotzige Kleinkinder. Selbst die Jugendlichen wirken seltsam vernünftig und beinahe würdevoll. Die Patzigkeit pickeliger Pubertierender kennt man dort nicht. Zufriedene Säuglinge schaukeln am Busen ihrer Mutter in einer Trageschlinge. Kleinkinder ziehen lachend in Grüppchen durchs Dorf, während die Größeren den Erwachsenen bei leichteren Arbeiten zur Hand gehen. Mädchen wie Sylvia etwa, die spätestens ab dem siebten, achten Lebensjahr spielerisch von ihren Müttern, Großmüttern oder Tanten an die Hausarbeit herangeführt werden. Manchmal durfte ich zuschauen, wenn Sylvia von ihrer Großmutter Antonia in der Kunst des Hängematten- oder Perlenknüpfens unterrichtet wurde. Wie gleichmäßig sie weben und knüpfen konnte, wie kunstvoll die Muster auf ihrem Perlenschmuck aussahen. Ob ich das jemals schaffen würde? Ich durfte sogar vorkosten, wenn sich meine große Freundin im Kochen übte. Ich erinnere mich, dass sie einmal etwas zu viel Aischi erwischte, eine
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