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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Autoren: Catherina Rust
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meine Finger. Arbeitshände sahen anders aus. Das Baumwollspinnen hingegen ging mir besser von der Hand. Während die Spule am drehenden Faden rauf und runter tänzelte, kam ich etwas zur Ruhe. Meine Gedanken hüpften zwischen Deutschland und dem Amazonas hin und her. Hier die tägliche Begrüßung beim Morgenfeuer, der kurze Schwatz, die Besuche meiner Freundinnen, die mir ihre Kinder zum Hüten vorbeibrachten, die rituellen Essenseinladungen bei den verschiedenen Aparai-Familien. Dort mein »a ltes Leben« in Deutschland, das mir plötzlich so fremd war. Studium, Beruf, Bausparvertrag? Wozu das alles? Um ein Leben lang einem Bürojob nachzugehen, bis irgendwann die Rente kam, wenn man bereits den Großteil des Lebens hinter sich hatte? Wertvolle Lebenszeit in sinnlosen Konferenzen abzusitzen? Um ein- oder zweimal im Jahr einen durchorganisierten Urlaub zu machen, bei dem man sich von den Strapazen des Alltags erholte? Das erschien mir auf einmal vollkommen absurd. War das das echte Leben? Oder fand es hier statt? Die hektische Welt da draußen drehte sich weiter, und sie brauchte mich nicht. Und ich vermisste sie auch nicht. Hier ähnelte ein Tag dem anderen, und ich merkte, wie sich meine Gedanken entschleunigten, wie ich aufhörte, darüber nachzugrübeln, was wohl heute in den Zeitungen stand oder morgen in den Nachrichten lief. Oder wer auf dem Anrufbeantworter eine Nachricht hinterlassen hatte. Meine Armbanduhr wanderte in das Seitenfach meines Koffers, wo sie für den Rest meines Aufenthalts blieb. Wozu auf die Zeit achten, wenn man plötzlich genug davon hatte?
    Und doch hatte sich etwas verändert. Ich war zwar Teil der großen Aparai-Familie, doch ich hatte keine wirkliche Aufgabe in der Gemeinschaft. Ich war ein Puzzleteil, das nicht mehr so recht ins Bild passen wollte. Zumindest nicht in das Bild, das ich noch im Kopf hatte. Die alten Traditionen der Aparai, die mich als Kind so beeindruckt hatten, waren inzwischen durch neue Riten und Gepflogenheiten ersetzt worden. Nichts belegte das besser als jenes Fest, weswegen unsere Abreise nach Mashipurimo noch warten musste: »C hristmas.«
    Ein fremder Geist hatte sich unter den Aparai breitgemacht. Die meisten Aparai, Wajana und Tirio, die ich von früher kannte, waren inzwischen zu Christen geworden. Was sich auch darin äußerte, dass die Frauen ihre traditionellen Lendenschurze mit den schönen Perlenmustern gegen Röcke oder Hüfttücher eingetauscht hatten. Ich erfuhr, dass es inzwischen eine »S ünde« war, seine vier Buchstaben unbekleidet zu zeigen. Das Gleiche galt für den Busen, bei dessen Anblick sich früher kein Mensch etwas gedacht hatte. Für Christen war ein blanker Busen hingegen tabu, wie so vieles andere auch. Die Mehrehe war verboten. Die alten Tänze durften allenfalls noch zur Belustigung der Kinder aufgeführt werden. Eine uralte Kultur, degradiert zur Showeinlage. Selbst die alten Lieder waren christlichem Liedgut gewichen. Fröhliche Weihnachten am Amazonas.
    Es war beinahe surreal. Das gesamte Dorf schien besessen von der täglichen, manchmal mehrstündigen Beterei, die mich an fanatische Gottesdienste erinnerte, die man hierzulande eher Sekten zuschreiben würde. Fast alle machten mit. Einige enthusiastisch, andere notgedrungen, damit sie nicht ausgegrenzt wurden. Ein halbes Dutzend verschiedener amerikanischer Glaubensgemeinschaften evangelikaler Prägung trieben allein am Paru ihr Unwesen, wie mir eine ältere Tirio empört berichtete. Sie nannte sie die »s echste Kolonie«. Diesen Begriff hörte ich mehrmals während meines Aufenthalts. Die Bibeln, die jede Familie nun ihr Eigen nannte, hatten alle eine ähnliche Aufmachung. Sie waren in Plastikumschläge eingeschweißt und so farbenfroh wie in Deutschland Bilderbücher für Kleinkinder. Inhaltlich unterschieden sie sich nur wenig, es schien, als drücke jede »K irche« nur ihren Stempel auf den Einband, geeint in dem Anliegen, die indianischen Gebiete möglichst flächendeckend zu bekehren.
    Die Mythen und Märchen aus meinen Kindertagen wurden schon lange nicht mehr erzählt. Sie galten inzwischen als »h eidnisch«. Araiba und Antonia waren neben einer älteren Tirio-Familie so ziemlich die Letzten, die an ihrer traditionellen Lebensweise festhielten. Die sich sämtlichen Versuchen, sie zur öffentlichen Taufe im Fluss zu bekehren, standhaft widersetzt hatten. Sie nahmen nicht an den Gottesdiensten teil und blieben ihren eigenen Traditionen treu, allen Versprechungen und
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