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Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern

Titel: Das Mädchen vom Amazonas: Meine Kindheit bei den Aparai-Wajana-Indianern
Autoren: Catherina Rust
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erwachsene Frau denn keinen Platz mehr in seinem Herzen?
    Von Antonia und den engsten Mitgliedern meiner Wahlfamilie begleitet, machte ich mich auf den Weg zum Gästehaus. Ich bemühte mich, meine Enttäuschung über das Wiedersehen mit Großvater Araiba zu verbergen. Ich hatte mich so auf ihn gefreut. Antonia knuffte mich aufmunternd in die Seite. Sie strahlte über das ganze Gesicht.
    Wie schön, dass sie ihre Gefühle so klar und eindeutig zeigen konnte. In meinem Innern hingegen herrschte Chaos. Ich war erleichtert über den bewegenden Empfang, das Gefühl, nach wie vor dazuzugehören. Ich war nach Hause gekommen, es schien, als könnte ich die Zeit, die uns voneinander getrennt hatte, abstreifen wie eine Schlangenhaut. Allein Araibas befremdliches Verhalten war ein erster Vorbote dessen, dass sich zwanzig Jahre nicht einfach so wegwischen ließen.
    Mashipurimo, das Dorf meiner Kindheit, gab es schon lange nicht mehr. Nach dem letzten großen Überfall einer Armada von Blattschneiderameisen, dem zweiten innerhalb eines einzigen Jahres, hatten die Aparai unser Flussdorf aufgegeben. Nicht lange nach unserer Abreise nach Deutschland. Eine Ära war zu Ende gegangen, aber es sollte wohl so sein. Auf der gegenüberliegenden Seite des Paru war ein neues Dorf errichtet worden. Allerdings ohne Polootoppo, was bedeuten konnte, dass sich die Bewohner immer noch ihrer alten Umgebung verbunden fühlten. Antonia versprach mir, dass wir bald das alte und das neue Mashipurimo besuchen würden. Ich sollte meine Heimat wiedersehen, aber zuerst sollte ich erst einmal richtig ankommen … und was wäre dafür besser geeignet als ein gutes Essen? Ein vertrauter Geruch stieg mir in die Nase. Irgendwo brannte ein Feuer, brutzelte Fleisch in Pfeffersud. »A limi«, bestätigte meine große Mutter mit einem Augenzwinkern. Eine bessere Begrüßungsmahlzeit konnte ich mir kaum vorstellen.

    Meine Freundin Koi
     
    Die ersten Nächte in Bona waren anstrengender als erwartet. Mein Rücken fand keine rechte Position in der Hängematte, egal, wie ich mich auch hinlegte, es war und blieb unbequem. Stunde um Stunde verbrachte ich im Halbschlaf, mich hin- und herdrehend, wie eine Larve in ihrem Kokon. Erst spät in der Nacht schlief ich vor lauter Erschöpfung dann doch noch ein. So tief, dass ich panisch hochschreckte, als mir etwas über das Gesicht und die vollkommen verschwitzten Haare fuhr. Hinter meinem türkisfarbenen Moskitonetz, über das sich am Abend der ganze Stamm lustig gemacht hatte, zeichnete sich das Gesicht von Antonia ab. Beruhigend strich sie mir mit ihren rauen Händen über die Stirn. Wie lange mochte sie wohl schon dagestanden haben?
    »K ind. Mein Kind«, flüsterte sie. »K atarischi, du bist wirklich zurückgekommen.«
    Ob ich noch etwas brauchte? Einen Schluck Wasser vielleicht? Tuna ?
    Ich schüttelte den Kopf und bedankte mich für ihre Fürsorge. Da beugte sie sich durch das Moskitonetz zu mir herunter und hauchte mir einen Kuss auf die Stirn. Für einen Augenblick fühlte ich mich wieder wie das kleine Mädchen im Urwald. Vollkommen geborgen.
    Antonia verschwand genauso lautlos, wie sie gekommen war. Der Boden unter meiner Hängematte war inzwischen über und über mit warzigen Kröten bedeckt, während es über mir im Gebälk vertraut flatterte. Fledermäuse. Durch einen schmalen Korridor, der die Kammer meiner Gästehütte vom Mehr-Generationen-Schlafraum meiner Aparai-Familie trennte, zog der Rauch des Nachtfeuers, der die meisten Moskitos fernhielt. Der Duft meiner Kindheit. Begleitet vom vertrauten Hustkonzert der Nacht, sank ich erneut in einen traumlosen Schlaf. Durch ein kleines Loch im Dach funkelten die Sterne. In der Ferne erklang das Bellen von Hunden, die anschlugen, wenn sich ein wildes Tier näherte oder ein Fremder, der hier nichts zu suchen hatte.
    Die folgenden Wochen gehörten zu den intensivsten, die ich je erlebt habe. Es war wie ein fortwährendes Déjà-vu. Der Geschmack der Speisen, die Geräusche des Dorfes, der modrige Geruch des lauwarmen Flusswassers beim Morgenbad. Das sanfte Murmeln der Stimmen, wenn bis zu fünf Generationen beieinanderhockten und über die wichtigen und nichtigen Dinge des Lebens palaverten. Die Berührungen von Menschen, die auf engstem Raum zusammenlebten, inmitten einer überbordenden Natur. Die Aparai und Wajana nahmen mich wie eine verlorene Tochter in ihrer Mitte auf und bewirteten mich großzügig, obwohl die Trockenzeit beinahe ihren Höhepunkt erreicht
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