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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod
Autoren: Lena Falkenhagen
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im Kirchenschiff übertönte Pertzevals dünne Stimme. Wer im Gestühl saß, erhob sich voll Schrecken, wer stand, wich zurück.
    Die schwarze Gestalt ging erst auf das Taufbecken zu und tauchte beide dünnen Hände hinein, in denen sie das hölzerne, schwarze Buch des Veles hielt. Ein Schwall heller Tropfen prasselte auf den Steinboden, als sie Hände und Buch wieder aus dem Wasser zog. Dann kam der Schwarzgekleidete langsamen Schrittes näher. Er musterte die Menschen, die spontan eine Gasse vor ihm bildeten. Sie alle spürten, dass man sich dem, der hier vorbeischritt, besser nicht in den Weg stellte.
    »Wage es nicht, jemanden anzurühren!«, keuchte Pertzeval erregt. »Du hast deine Opfer bekommen! Die Stände Lübecks sind sicher vor dir, Tod!«
    Doch was immer Pertzeval befürchtet hatte, trat nicht ein. Die Gestalt beschleunigte ihren Schritt nicht, doch sie hielt auch nicht inne. So, wie sie ging, würde sie über kurz oder lang bei Marike sein, die ja noch immer das letzte Opfer im Arme hielt.
    »Nicht sie!«, hustete der alte Mann entsetzt. »Marike, leg den Jungen hin! Er will sein letztes Opfer! Leg ihn hin! Der Totentanz muss vollendet werden!«
    Seine Tochter dachte offenbar nicht daran, ihm zu gehorchen. Sie zog den Jungen gar noch näher ans Herz und drehte sich von der schwarzen Gestalt weg, wieder zu ihm. Wo eben noch Wut und Hass gewütet hatten, herrschte nun Schmerz und Mitleid.
    »Vater«, sprach sie mit erstickter Stimme. »Warum das alles? Warum musste Pater Martin sterben? Warum Gunther von Kirchow? Warum Wilhelm von Calven und all die anderen? Warum musste der Totentanz, der hier hängt, im wahren Leben auferstehen? Warum … warum dies unschuldige Kind?« Die letzten Worte wurden von Tränen begleitet.
    Dem alten Mann blutete das Herz. Er hatte gehofft, ihr das niemals erklären zu müssen. Er hatte dies als Ansammlung von Unfällen und normalen Totschlägereien abtun wollen. Alles hatte im Hintergrund vonstattengehen sollen, ohne dass jemand davon erfuhr – seine eigene Tochter am wenigsten!
    Eine Frauenstimme piepste dazwischen. »Mein Mann ist nicht ermordet worden!« Es war Kunigunde von Calven. »Er ist vom Herrn Jesus Christus zu sich berufen worden! Er ist auserwählt worden, ins Reich des Herrn einzukehren!« Unsicher irrten die Blicke der Witwe zwischen den drei Gestalten, der schwarzen, der weißen und dem in Grau gekleideten Ratsherrn hin und her. »Etwas anderes zu behaupten, ist böse und unchristlich!« Schweigen fiel über die Kirche. Auch Frau von Calven verstummte, als die verhüllte Gestalt nun mit der schwarzen Kapuze direkt zu ihr hinüberblickte, ohne dass man Augen oder ein Gesicht erkennen konnte.
    Pertzeval wandte seine Aufmerksamkeit wieder zu seiner Tochter zurück. Heiße Tränen liefen ihm über das Gesicht. »Ich habe es für dich getan, Marike«, flüsterte er rau. »Für alle hier. Wir waren dem Tod geweiht!« Er sah auf die schwarze Gestalt. »Doch ich habe einen Weg gefunden, wie wir leben können! Wir alle! Die Pest kann uns nichts mehr anhaben! Er kann uns nichts mehr anhaben.« Sein Finger bohrte sich in die Luft und wies unmissverständlich auf die Gestalt mit der Kapuze. »Wir haben den Namen des Todes entziffert und enträtselt, wie man ihn bannen kann. Wir haben die Opfer gebracht, die an Lübecks Stelle sterben mussten. Wenn der Bube stirbt, ist der Bann vollendet, und das Gemälde hier wird ihn auf ewig bewahren! Der Ewige Lohn ist unser, unser aller!«
    Ein Raunen des Schreckens ging durch die Halle der Marienkirche, und wieder wich man zurück, um aus der Reichweite des Schreckensmannes zu kommen, der sich da näherte. Doch trotz der Aussicht, hier dem Tod persönlich gegenüberzustehen, rannte niemand fort. Die Menschen waren gebannt zwischen Furcht und Faszination.
    Marike schüttelte als Antwort nur den Kopf. »Du hast nichts dergleichen getan, Vater.« Sie deutete mit dem Kinn zu Kunigunde von Calven und ihrer Tochter hinüber. »Du hast einem jungen Mädchen das Elternteil genommen. Du hast ihr dasselbe angetan wie die Pest damals mir. Und vielen anderen mehr!«
    Doch Pertzeval schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Marike, nein. Vertrau mir! Sieh ihn dir an. Er kann uns nichts tun, jetzt nicht mehr! Wir werden leben, wir beide! Niemand muss mehr sterben! Manchmal müssen Opfer gebracht werden, Marike, damit weniger Menschen leiden müssen!« Er rang um Worte, um sich verständlich zu machen. »Hast du nicht selbst gesehen, wie Lyseke
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