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Das Mädchen und der Schwarze Tod

Das Mädchen und der Schwarze Tod

Titel: Das Mädchen und der Schwarze Tod
Autoren: Lena Falkenhagen
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seinem Bauch verging langsam. Er konnte die Augen nicht mehr offen halten. Sicher würde der Vater von Marike böse werden, wenn er nicht mit in die Kirche kam, sondern stattdessen hier einschlief. Er musste wach bleiben! Er wollte ja auch wach bleiben. Aber die Müdigkeit zog seine Glieder beinahe in den Steinboden der Kirche. Während sich die Hallen um die Oldesloekapelle herum mit Messgängern füllten, fiel Felix’ Kopf mit einem leisen, dumpfen Geräusch an die Seitenwand der Kapelle.

KAPITEL 18
    D ie hoch aufstrebende und überirdisch schöne Halle der Marienkirche war erfüllt vom erhabenen Gesang von einem Dutzend Knaben. Die lateinischen Verse priesen die Muttergottes vor allen anderen Frauen, denn sie war so rein gewesen, dass sie von Gott dem Herrn auserwählt worden war, seinen Sohn in die Welt zu tragen. Bar jeglicher Schuld und jeder Sünde hatte der Herr ihr sein Fleisch und Blut in den Schoß gelegt, um die Seelen der Menschen zu erretten. Wer, wenn nicht diese Jungfrau, wäre besser geeignet, beim Herrn für die Seelen derer zu bitten, die weniger rein und unberührbar waren als sie? Für jene, die nur menschlich waren und irrten, ihren Weg durch diese Welt aus Sorgen und Bitternis suchten, obwohl sie doch nicht wussten, wohin die Füße sie trugen?
    An diesem 15. Tag im Augustmonat des Jahres 1465 hatten viele Menschen ihre Füße in jene Kirche gelenkt, die der Maria geweiht war. Heute wollten sie nicht nur die Muttergottes verehren und ihren Aufstieg ins Reich des Himmels feiern, sie waren gekommen, um endlich ihre Toten zu beweinen. Und Tote hatte es in den letzten Wochen genug gegeben.
    Kaum jemand, der hier ohne schützendes Essigtuch auftauchte, keiner ging mehr in der Kirche seinem Tagwerk nach oder tratschte mit dem Nachbarn. Einzig ein paar Kinder liefen sorglos ihrem Ball hinterher, der durch das Süderschiff hin zum Taufbecken rollte. Die Menschen versuchten, mit prunkvoller Kleidung und tapferen Gesichtern ihre Angst zu verbergen. Doch trotz des hohen Feiertages war das hohe Hauptschiff der Kirche kaum gefüllt.
    Schwarzseher munkelten bereits, dass dieser Seuchenzug schlimmer werden würde als jeder andere – ja, dass so viele Menschen sterben würden wie damals, vor einhundert Jahren, als der Schwarze Tod zum ersten Mal durch die Lande strich. Andere wiederum, die die Pest vor vierzehn Jahren erlebt hatten, wussten, dass es damals nicht weniger schlimm gewesen war als heute. Diese Menschen waren Leuchtfeuer der Hoffnung: Nicht jeder starb an der Seuche. Man konnte den Hauch des Todes überleben.
    Die Nordervorhalle war größtenteils leer, als sich die kleine Tür öffnete und Marike den Kopf hineinsteckte. Notke hatte ihr in der Fronerei von dem Altar in der Oldesloekapelle erzählt. Dort vermutete sie ihren Vater, und wo ihr Vater war, da würde hoffentlich auch der kleine Felix sein. Marike hoffte, sie käme nicht wieder zu spät.
    Der Gesang verhallte, und Bürgermeister Wittik hob mit seinem salbungsvollen Tonfall an zu sprechen. Die Worte hallten verzerrt durch die Kirchenschiffe und kamen nur teilweise bei Marike an. Sie vernahm den Namen »Nikolaus« und das Wort »Verdienste«. Doch sie war nicht gekommen, um politischen Predigten zuzuhören. Sie war gekommen, um dem Treiben des Teufels, ihres Vaters, ein Ende zu machen.
    Leise schlich sie sich in die Halle, in der der Totentanz bereits an der Wand hing. Marike bekreuzigte sich – Bernt Notke hatte ganze Arbeit geleistet. Die Gesichter der Männer dort oben sprachen von Verzweiflung und Schrecken, und die Figuren des Todes … Marike wandte ihre Augen ab. Dieses Bild zeugte davon, dass sein Maler in die Hölle geblickt hatte.
    Die kleine Tür zur Oldesloekapelle war nur angelehnt. Pure Angst ließ sie zögern. Was würde sie sehen? Kam sie auch dieses Mal zu spät? Zitternd schob sie die Tür auf. Marike schlug sich die Hand vor den Mund, als sie den kleinen Felix in der Kapelle liegen sah. Beinahe friedlich lag er an die Holzwand gelehnt, über ihm der Altar. Das unselige Ritual war an ihm vollzogen; er war mit Staub, Erde und einer Flüssigkeit eingesegnet worden und trug den Splitter bereits auf der Stirn. Die Arme waren rechts und links ausgestreckt, die Unterarme aufgeschnitten. Aus den hässlichen Wunden quoll das rote Blut in zwei Schalen aus Bronze und vermischte sich mit Dreck und Milch. Auf dem Altar lag noch das blutige Messer. »Oh nein«, stöhnte Marike und stürzte zu dem Kind, das hier offenbar liegen
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