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Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman

Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman

Titel: Das Mädchen, der Koch und der Drache - Roman
Autoren: Bastei Lübbe
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gelaufen ist. Die Kälte steckt wie ein Eiszapfen in seiner Kehle. Er blickt suchend auf – vielleicht kann er sich in einem Café ein bisschen aufwärmen? Oswald ahnt nicht, dass es der Atem des Himmelswächters ist, der ihn gestreift hat. Der Riese am Himmel will wissen, warum das Pfefferkorn da unten sich plötzlich tot stellt. Hat es vielleicht sein Gedächtnis verloren? Er bläst dem jungen Mann erneut einen Lufthauch ins Haar. Sieh da, das Pfefferkorn fängt an zu rennen. Nicht übel. Der Himmelswächter grinst und lässt seinen herunterhängenden Oberkörper ein wenig schaukeln.
    Aber was macht das Korn? Es rennt wie ein abgeschossener Pfeil über die Straße, öffnet eine Tür und verschwindet dahinter. Ist es vor ihm geflüchtet?
    In diesem Moment schrillt die Sirene zum Feierabend. Missmutig bläst der Himmelswächter noch einmal in die Stadt hinunter und legt dabei einen Baum im Tiergarten um. Er schwört sich, dem Pfefferkorn beim nächsten Mal kein Schlupfloch mehr zu lassen. Dann richtet er sich auf, streckt sich und verschwindet mit patschenden Schritten im wolkenverhüllten Himmelsreich.
    Oswald ist in ein Chinarestaurant eingetreten, wo sich ihm ein unerwarteter Anblick bietet: Der Gastraum ist dunkel und leer, und die auf die Tische gestellten Stühle zeigen an, dass die Küche seit Langem geschlossen ist. Nur ein einzelner freier Tisch tief im Innerendes Raums ist erhellt wie eine Bühne. Eine junge Chinesin in einem roten Kleid steht darauf und leuchtet über das dunkle Gewirr der Tische und Stühle hinweg. Und was tut sie? Sie singt! Oswalds Herz schlägt bis zur Kehle. Unverwandt schaut er sie an. Sie hat ihre Schuhe ausgezogen und tanzt zur Musik aus der Stereoanlage. Mit den Pumps in der Hand sieht sie aus wie ein Vogel mit schwingenden Flügeln. Das Kleid bringt ihre schmale Taille zur Geltung, ist aber eigentlich zu schlicht für sie, findet Oswald. Denn sie besitzt eine Stimme, die so kostbar ist wie die silberglänzende Spree.
    Vor der Sängerin stehen zwei Männer, die mit offenem Mund zu ihr aufschauen. Streift der Saum des roten Kleides zufällig ihre Gesichter, lachen sie, als sähen sie Sterne vom Himmel herunterrieseln. Oswald fragt sich, ob die Männer noch alle Sinne beisammenhaben.
    So, wie die Männer aussehen, lesen sie keine Bücher. Der Ältere scheint der Koch zu sein. Er trägt eine weiße Schürze und ist wahrscheinlich kurzsichtig wie eine Ratte. Angestrengt kneift er die Augen zu schmalen Strichen zusammen, um die Tanzende besser sehen zu können. Der Jüngere sieht wie ein Tellerwäscher aus. Er hat ein olivgrünes T-Shirt an und wirkt etwas freundlicher als sein Kollege. Mit erhobenen Armen und geballten Fäusten schaukelt er hin und her, ohne den Blick auch nur für eine Sekunde von der jungen Frau abzuwenden. Ha, so balzen also Chinesen, denkt Oswald. Wie stehende Frösche.
    Wüsste er, dass der jüngere Mann einen großen Bergdarzustellen versucht, würde er sicher laut lachen. Ein Berg mit wackelndem Hintern, und dann hüpft er auch noch hin und her? Aber dass der Mann die junge Frau anbetet, sieht man sofort. Oswald verhält sich ganz still, um das Schauspiel noch weiter betrachten zu können. Vorhin, auf der Straße, schien die Melodie nach unerfüllter Liebe zu klingen. Jetzt erscheint sie ihm mehr wie ein Tanzlied oder ein Lied für die Feldarbeit.
    »Der Berg ist grün, das Wasser blau. Das Mädchen ist schön wie das Wasser und der junge Mann stark wie der Berg …« Jetzt bricht die Sängerin ab. Sie hat den Schatten im unbeleuchteten Eingang entdeckt. Die Männer folgen ihrem Blick und werden auf einmal scheu wie Maulwürfe. Sie ziehen sich gänzlich ins Dunkel zurück.
    »Wir haben schon geschlossen!«, ruft die Frau und winkt abweisend mit ihrem Schuh.
    »Das habe ich mir schon gedacht!«, ruft Oswald zurück. Verdammt, wieso habe ich mich nicht versteckt? Unter den Tisch hätte ich kriechen sollen, denkt er. Jetzt singt sie nicht weiter.
    Als die junge Frau sieht, dass sich der Mann die Hände vor den Mund hält, um sie mit seinem Atem zu wärmen, wird sie etwas freundlicher. »Falls Sie wegen unserer Pekingsuppe gekommen sind, tut es mir leid. Die ist schon alle. Aber kommen Sie doch morgen wieder. Dann serviere ich Ihnen eine frisch gekochte Suppe, und Sie werden bestimmt nicht mehr frieren.«
    Mendy weiß, dass besonders im Winter viele Gäste wegen der Pekingsuppe kommen. Die ursprüngliche Suanla Tang – »Sauerscharfsuppe« – hat eine
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