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Das Mädchen aus der Pearl Street

Das Mädchen aus der Pearl Street

Titel: Das Mädchen aus der Pearl Street
Autoren: Dorothy Gilman Butters
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Dreieck. An der Spitze erhob sich das Stationsgebäude mit seinen Signaltürmen und den dazugehörigen Frachthöfen und Feldern voll Unkraut und vom Wind zerzaustem Gras. Die Gleise stellten die beiden Schenkel dar, die wie eine Zange die Pearl Street umklammerten. Früher hatte diese Straße einmal aus den zwar schlichten, aber ordentlichen Reihenhäusern bestanden, die eine Wollweberei für ihre Arbeiter errichtet hatte. Aber dann war dies Werk, wie die meisten seiner Art, wegen der dort niedrigeren Arbeitstarife in die Südstaaten verlegt worden, und die Pearl Street hatte mein dem Verfall überlassen. Es ging ständig mehr bergab mit ihr, und als das Stadtbauamt sich endlich an dieses schäbige Armeleuteviertel erinnerte, schlug es vor, am besten die häßlichen alten Hütten einfach abreißen zu lassen. Bisher war es aber noch nicht geschehen, und bis dahin wohnte die Familie Boscz nach wie vor in einem der besten der vier Blocks. Ihr Heim war keines der Doppelhäuser, in denen oft vier bis sechs Familien zusammengepfercht hausten, und sie brauchten ihr Dach auch nicht mit anderen Mietern zu teilen. Das war immerhin ein Vorteil und sicherte einen letzten Rest des Privatlebens. Als Kitty ein Säugling war, gab es hier weder Elektrizität noch eine Wasserleitung, aber beides war inzwischen gelegt worden, wenn auch in der allerbilligsten Ausführung. Zwar würden die Holzwände wohl niemals den seit Jahren fälligen neuen Anstrich erhalten, aber bei 25 Dollar Miete konnte man schließlich nicht auch noch Schönheit verlangen.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite sah Kitty die kleine Hilde Bianca auf den Verandastufen sitzen und ihre Puppe wiegen. Kitty winkte ihr zu. Das Kind legte den Finger auf den Mund, machte „psssst!“ und sang dann ihrem Püppchen weiter etwas vor. Kitty wollte gerade in den schmalen Pfad einbiegen, der durch den lehmigen Vorgarten zu ihrem Haus führte, als sie erstaunt stehenblieb, denn da saß auf ihrer Veranda ein junger Mann. Als er sie sah, ging er ihr entgegen.
    „Miß Boscz?“ fragte er.
    Sie antwortete nicht sofort. Fremder Besuch hier in der Pearl Street konnte leicht Unangenehmes bedeuten. Dieser junge Mann sah allerdings denkbar harmlos aus, freundlich, dunkelhaarig, sauber rasiert. Er gehörte nicht hierher. In seinem kurzärmeligen Hemd und der sportlichen Hose glich er einem Gerichtsvollzieher so wenig wie einem Detektiv, aber man konnte nie wissen, und sie hatte keine Ahnung, was er hier suchte.
    „Ja?“ sagte sie schließlich kühl.
    „Ich bin Cy Whitney“, stellte er sich vor.
    „Oh“, seufzte sie erleichtert, „Sie sind der Herr vom Gemeindehaus?“
    „Stimmt. Ich möchte mit Ihnen sprechen. Wie wär’s, wenn wir irgendwo zusammen eine Tasse Kaffee trinken würden?“
    „Hmm…“
    Er lächelte, und plötzlich wurde sein an sich reizloses Gesicht angenehm und liebenswert.
    „Nun sagen Sie bloß nicht auch noch, daß Sie nicht in meiner Gesellschaft gesehen werden wollen!“ scherzte er.
    Sie lächelte zurück.
    „Ist Ihr Amt derartig schwer?“ fragte sie ihn.
    „Sehr“, gab er zu. „Sehe ich eigentlich wie ein Menschenfresser aus?“
    „N-n-nein, kaum.“
    „Oh, aber man könnte mich nicht heftiger meiden. Jeder denkt, ich wolle ihn verschlucken, um ihn dann als Tugendbold wieder auszuspeien. Bloß die Jungen, die ohnedies von daheim aus nett erzogen sind, laufen mir fast die Bude ein. Sie warteten bereits vor dem Tor, ehe der Bürgermeister zur Eröffnung des Gemeindehauses das Band durchschneiden konnte. Aber ich bin ja gerade hinter der anderen Sorte her. Ich will die Lausbuben erwischen, nicht, um sie völlig umzukrempeln, sondern um ihre überschäumende Energie in gewisse geregelte Bahnen zu lenken.“
    „Warum kommen Sie nicht mit ins Haus und trinken bei uns eine Tasse Kaffee?“ schlug Kitty vor. „Meine Mutter ist daheim, aber sie schläft wahrscheinlich, weil sie nachts zur Arbeit geht. Ich nehme an, Sie kommen wegen unseres Thomas?“
    „Sie vermuten ganz richtig. Haben Sie etwas dagegen?“
    „Ich weiß nicht“, antwortete sie unsicher und schloß die Tür auf, „er ist schließlich mein Bruder.“
    Sie ließ ihn ins Wohnzimmer treten und studierte aufmerksam sein Gesicht, um sich ja nicht seine Reaktion beim Anblick des eingebeulten Sofas, der abscheulich haferschleimfarbenen Tapete und des zerlöcherten Linoleumteppichs entgehen zu lassen. Zu ihrer Verwunderung schien er sich absolut nicht darüber zu entsetzen, und wenn ja,
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