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Das Mädchen aus der Pearl Street

Das Mädchen aus der Pearl Street

Titel: Das Mädchen aus der Pearl Street
Autoren: Dorothy Gilman Butters
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komplizierten Einzelarbeiten beschäftigt, trotzdem fanden sie Zeit, die Köpfe zu heben und Kitty anzulachen, als sie bei ihnen vorbeikam. Rechts standen kleinere Maschinen, die nur etwa einen oder zwei Köpfe höher waren als sie. Diese wurden von Frauen betätigt, die auf niedrigen, hölzernen Plattformen standen. Eine Frau schien immer sechs dieser Plastikpressen überwachen zu müssen. Sie lief ständig von einer zur andern, füllte oder leerte sie, drückte auf Knöpfe und bediente Tasten und Hebel, die das Riesenmaul des stählernen Kolosses öffneten oder zuklappen ließen. Die Frau rief Kitty etwas zu, aber weder sie noch ihr Begleiter konnte verstehen, was sie sagen wollte, doch Kitty sah mit Staunen, daß die Rohmaterialbrocken, die die Frau vorhin in eine der Pressen geschüttet hatte, nun als runde, gelbe Plastikscheiben wieder zum Vorschein kamen, denen man bereits deutlich ansah, daß daraus Puderdosen entstehen sollten.
    Dann warf sie einen Blick auf die Hände der Frau, und beinahe hätte sie laut aufgeschrien. Jeder einzelne Finger war mit Wunden und Blasen bedeckt. Jetzt wußte sie, was der Personalchef unter anderem gemeint hatte, als er sie vor der Hitze warnte. Jede dieser Preßmaschinen spie den Feueratem von gut zwölf Öfen aus.
    „Reicht Ihnen das?“ schrie ihr der Mann ins Ohr. Kitty nickte. Sie hatte bereits vor fünf Minuten schon mehr als genug davon gespürt und gesehen, und sie konnte sich nicht vorstellen, wie man eine ganze Nacht in dieser Hölle überstehen könne. Ihr Begleiter führte sie hinaus, und als sich endlich die Tür hinter ihnen schloß, war ihr auf einmal richtig schwindelig in der plötzlichen Stille und Kühle der hohen Halle.
    Kitty atmete tief auf:
    „Jetzt haben Sie unsern Maschinenraum gesehen“, sagte der Personalchef.
    „Ja“, hauchte Kitty schwach.
    „Haben Sie noch immer Lust, dort zu arbeiten?“
    Nein, die Lust war ihr gründlich vergangen. Sie hätte weinen mögen. Es drängte sie, so laut sie nur konnte: „Nein!“ zu schreien, aber dann sah sie im Geist ihre Mutter, die seit Jahren Nacht für Nacht die schweren Teller und Schüsseln geschleppt hatte, und sie schämte sich.
    „Ja“, versicherte sie mit möglichst fester Stimme, „wenn ich damit 60 Dollar pro Woche verdienen kann.“
    „Auf Grund der Fächer, die Sie in der High School belegt hatten, könnte ich mir vorstellen, daß Sie sich als Büroangestellte recht gut eignen würden“, versuchte der Mann sie doch noch zu überreden, „freilich, lediglich mit Schulkenntnissen und ohne Berufserfahrung...“
    „Ich habe bereits gesagt, daß ich die Maschinenarbeit annehme“, schnitt sie ihm das Wort ab.
    „Gut, gut“, er rieb sich die Hände, „mir soll’s recht sein. Diese Stellen sind ohnedies am schwierigsten zu besetzen.“
    Mit verbissener Miene schaute sie an ihm hoch und ließ sich dann zurück ins Büro begleiten, wo sie sich bedankte und verabschiedete.
     
    Der Arzt fand, daß sie bei bester Gesundheit sei, und stempelte ein riesiges „OKAY“ quer über ihr Bewerbungsformular. Kitty, die wieder ihr nettes Kostüm angezogen hatte, nahm einen Bus in die Stadt und kaufte sich ein Paar Jeans. Solche meist langen blauen Leinenhosen sind sozusagen die Uniform amerikanischer Jungen und Mädchen, aber Kitty hatte bisher noch keine besessen. Typisch, dachte sie bei sich, als sie unter den hohen Stapeln nach ihrer Größe suchte, alle ihre Mitschüler hatten ihre Jeans seit Jahren zu Sport und Spiel getragen; sie aber würde ihr erstes Paar zur Arbeit anziehen. Es war schwer, nicht zu verbittern bei solchen Gedanken, aber sie wehrte sich tapfer dagegen, denn sie wußte, daß sie es so weit nicht mit sich kommen lassen durfte. Es war genug, daß Thomas seinen bitteren Gefühlen zum Opfer gefallen war; sie hatten sich wie eine Infektion über seinen Körper und Geist verbreitet, und vielleicht ließ sich mit dieser Bitterkeit erklären, warum aus Thomas das geworden war, was ihnen allen solche schweren Sorgen machte. Nein, ihr durfte so etwas nicht passieren.
    Um das Fahrgeld zu sparen, ging sie zu Fuß nach Hause. Es war fast Mittag, und die Hitze ließ den Teer zwischen dem Pflaster hervorquellen, aber in der Unterführung war es angenehm schattig. Die Pearl Street begann und endete mit einer Eisenbahnunterführung. Dazwischen lagen vier Blocks aus baufälligen Häusern, Schutthalden und aufgewühltem Lehmboden. Die Straße bildete gemeinsam mit den Zuggleisen und dem Bahnhof ein
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