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Das Mädchen am Rio Paraíso

Das Mädchen am Rio Paraíso

Titel: Das Mädchen am Rio Paraíso
Autoren: Ana Veloso
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zusammengeschrumpft war. An einem besonders geschützten Hang gab es sogar schon Weidenkätzchen. Ich schnitt ein paar Zweige davon ab und stellte sie in einen Krug in unserer guten Stube. Wir holten den Osterschmuck aus der Truhe – um neue Eier auszublasen und zu bemalen, waren die Lebensmittel zu rar – und hängten sie an die Zweige. Es war ein überaus freundlicher Anblick. Dazu wärmte die Sonne unsere Zimmer und unsere Herzen. Die Tage wurden wieder länger, und wir alle atmeten auf, dass der lange und harte Winter endlich überstanden war. Doch das milde Wetter hielt nur etwa eine Woche lang an. Dann begann es wieder zu schneien. Ein beißend kalter Wind rüttelte an den Schieferschindeln unseres Hauses, pfiff durch jede Ritze und brachte mich um den Verstand: Was, wenn ich zu meiner Erstkommunion den scheußlichen grauen Wollmantel tragen musste?
    Ich war neun Jahre alt, und die heilige Kommunion war
das
Ereignis meines Lebens. Obwohl ich zu dieser Zeit sehr religiös war – vor allem wegen der anrührenden Heiligenbilder, die ich mit Lore austauschte –, lag der größte Reiz meiner Kommunion selbstverständlich in den Kleidern, die ich tragen würde. Wie eine Braut würde ich ausstaffiert werden: weiße Schuhe, weiße Strümpfe, weißes Kleid, weiße Handschuhe, weißer Schleier. In den Händen würde ich eine riesige weiße Kerze halten, die von einer weißen Schleife und von weißen Blumen umrankt wäre. Ach, ich fieberte dem Ereignis entgegen wie keinem anderen in meinem Leben! Zwar musste ich Hildegards altes Kommunionkleid tragen, das diese wiederum von Ursula geerbt hatte, aber das empfand ich nicht als so schlimm. Es war noch immer ein wunderschönes Kleid – im Gegensatz zu manch anderen Kleidungsstücken, die ich auftragen musste. Und ich kannte es ja nicht anders. Es schien mir selber schon als unvorstellbare Verschwendung, dass meine Mutter mir jemals ein eigenes, neues Kleid nähen sollte. Das Einzige, was mich ernstlich bedrückte, war die Sorge, dass das Wetter bis zu dem großen Tag nicht besser würde. Der Mantel würde die ganze weiße Pracht zerstören. Lieber würde ich erfrieren, als meine schöne Kommunion mit diesem alten Ding zu ruinieren.
    Meine Eitelkeit wäre eine von den Sünden gewesen, die ich dem Pfarrer hätte beichten können. Aber sie fiel mir schlicht nicht ein. Ich zermarterte mir das Hirn, was ich zu meiner ersten Beichte, die man vor der Erstkommunion ablegen musste, sagen sollte, doch mir kamen nur Dinge in den Sinn, von denen ich dem Pfarrer lieber nicht erzählen wollte. Meine Wut auf den Lehrer, weil er mir im Diktat eine schlechtere Note gegeben hatte als der Lise, obwohl ich sie doch von mir hatte abschreiben lassen; meinen Ärger auf Hildegard, die, nachdem Ursula geheiratet hatte, eine Kammer für sich bekam und alle hübschen Dinge aus unserem gemeinsamen Zimmer dahin mitnahm; und meinen täglich wachsenden Zorn auf Matthias, der nur dann über einen Funken Phantasie zu verfügen schien, wenn es darum ging, mich mit immer neuen Streichen zu piesacken.
    Ich fragte Lore, was sie denn so beichten würde, und sie hatte jede Menge gute Sünden parat: dass sie die Eltern nicht immer ehren würde, wie es ihnen gebührte, ja, dass sie sie sogar schon einmal angelogen hätte; dass sie manchmal während der Messe mit den Gedanken woanders wäre als bei den Worten des Pfarrers; und dass sie – das war mit Abstand die beste ihrer Sünden – dem Peter vom Nachbarhof schon einmal beim Wasserlassen zugesehen hätte und er ihr. Ich war beruhigt. Diese Dinge würde ich ebenfalls beichten. Nur würde aus dem Peter bei mir der Matthias werden. Dass ich ihn nicht freiwillig hatte zusehen lassen, musste ich ja nicht erwähnen.
    Am Abend nach diesem Gespräch mit Lore belauschte ich zufällig meine Eltern, die sich über dasselbe Thema unterhielten. Ich wollte nicht wirklich lauschen, aber es ergab sich so. Es war äußerst selten, dass die Eltern spätabends noch allein beisammensaßen und redeten. Meistens waren sie von der schweren Arbeit des Tages so erschöpft, dass die Mutter nach dem Abendbrot nur noch die Küche aufräumte, dann den Vater aufweckte, der regelmäßig auf der Holzbank in der Stube einzudösen pflegte, und mit ihm zusammen ins Schlafzimmer ging. Um vier Uhr morgens wurde bei uns aufgestanden, im Winter um fünf.
    An diesem Abend jedoch plagten mich schlimme Bauchschmerzen, vor Hunger, wie ich glaubte, so dass ich mich im Dunkeln in die Küche
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